MILES DAVIS - Four & More (Recorded Live In Concert)
(Columbia Records CS 9106, 1964)
Im Tonstudio verfolgte Miles Davis, insbesondere in den 60er Jahren, fast immer eine konzeptuelle Vision. Das macht Live-Aufnahmen von ihm wie etwa "Four & More" umso wertvoller. Sie präsentieren den legendären Trompeter zumeist völlig befreit von thematischen Anforderungen und Beschränkungen. Er spielt sich auf der Bühne frei mit einem Programm brillianten Materials, das er später zugunsten eines experimentelleren Spiels vernachlässigte. Intensiv und aggressiv-dynamisch produzierte der legendäre Miles Davis einen wahren jazzmusikalischen Sturm in der Philharmonic Hall im New Yorker Lincoln Center am 12. Februar 1964. Der nicht minder berühmte Pianist Herbie Hancock swingte, Saxophonist George Coleman liess die Muskeln spielen und alle liessen sich antreiben vom Schlagzeuger Tony Williams (The Tony Williams Lifetime). Das Konzert-Dokument "Four & More" ist eine der letzten Aufnahmen, auf der Davis mit einem vollen Set an Standards zu hören ist. An diesem Abend klangen er und seine hochkarätigen Mitmusiker absolut aufregend und dynamisch.
Nach einer Übergangsphase mit einer kalifornischen Band ("Seven Steps to Heaven") stellte Davis in New York mit Ron Carter und George Coleman ein neues Quintett auf, zu dem der Pianist Herbie Hancock und der erst 17 Jahre alte Schlagzeuger Tony Williams gehörten. Im Sommer 1963 ging die neue Formation auf Europatournee und gastierte auf dem Jazzfestival in Antibes ("Miles Davis in Europe"). Am 12. Februar spielte die Band in der Philharmonic Hall, der heutigen Avery Fisher Hall, bei einer Benefiz-Veranstaltung des NAACP, des Congress of Racial Equality und des Student Nonviolent Coordinating Committee für die Wähler-Registrierung in Mississippi und Louisiana. Miles Davis verstand seine Beteiligung an dem Konzert auch als seine Form der Erinnerung an den im November des Vorjahres ermordeten John F. Kennedy. Diese Tat hatte die Hoffnungen vieler Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung zunichte gemacht. Miles Davis hatte immer wieder seine Bewunderung für die Kennedys zum Ausdruck gebracht.
Dieses Konzert strotzte vor Energie. Das Tempo war in der Tat echt berauschend. Abgesehen von der erstaunlichen Virtuosität fällt es buchstäblich schwer, beim Anhören nicht mit beiden Füssen zu klopfen und ruhig sitzen bleiben zu können. Der Klang ist hervorragend: Grosse Tiefe und Breite der Klangbühne, Punch und Drive vom Bass, Klarheit und Biss in den oberen Registern ohne jede Härte - einfach eine schiere Gewalt an äusserst transparentem Sound, der den Zuhörer fast körperlich spüren lässt, was hier passierte - als wäre er selbst mitten im Publikum gesessen. Miles bedient sich überall: Er schafft Stakkato-Volleys und schwankende Glissandos, wie sie sich in dieser Direktheit selten auf anderen Aufnahmen findet. George Coleman ist von demselben Geist, obwohl er eine eher klassische, saubere Spielweise bevorzugt. Miles Davis sagte später, er beurteile dieses Konzert als Coleman's beste Performance. Der Schlagzeuger Tony Williams wiederum ist ein dynamisches Kraftpaket, als wäre er zusammengeschweisst mit Ron Carter, das Rhythmusgefühl der beiden ist wahrhaft berauschend. In diesem Zusammenhang ist Herbie Hancock schliesslich Derjenige, der am meisten Anstrengung braucht, um diese dynamisch unbändige Rhythmusgruppe adäquat zu bedienen, um so ein Feuer zu entfachen, auf welches der Meister dann mit seiner Trompete soliert. Das gelingt zu jeder Zeit phantastisch und zeigt am Ende vier absolute Ausnahme künstler vereint und wie aus einem einzigen Guss.
Die Auswahl der an diesem Abend im Lincoln Center präsentierten Titel bieten einerseits einen wilden und anstrengenden Hörgenuss, aber auch - beispielsweise mit dem herzlichen "My Funny Valentine" den Kontrapunkt: Ergreifende und atemberaubende Nachtmusik. Mir persönlich gefällt dieses Album besser als "Kind Of Blue". Das Personal ist zwar auch dort überzeugend und hat mit dem Werk sicherlich einen der grössten Jazz-Klassiker überhaupt hervorgebracht. Trotzdem ist die Dynamik eines Konzerts von Miles Davis immer eine Welt für sich. Da kommt eine so extrem körperlich fühlbare Kraft auf die Bühne, dass man nicht glauben mag, dass hier von nur vier Musikern eine solch umfassende, gross intonierte Musik dargeboten wird. Gerade "My Funny Valentine": Wie oft mag Miles Davis dieses Stück schon gespielt haben, bevor er es an diesem Abend live vortrug ? Jedenfalls spielt er es hier mit einer Inbrunst, als wäre es die Premiere, als hätte er sich unmittelbar zuvor unsterblich in diesen Song verliebt.
Interessanterweise wurden die Live-Aufnahmen jenes denkwürdigen Konzerts in zwei Alben untergebracht. Einerseits die forcierten Stücke, die als "Four & More" veröffentlicht wurden, und die eher zurückhaltenden Titel wie besagtes "My Funny Valentine", die dann in der etwas später auf den Mark gebrachten LP "My Funny Valentine - Miles Davis In Concert" zu finden waren.
Der Miles Davis Biograph Peter Wiessmüller schrieb, dass die "Four & More" Titel zu schnell gespielt worden seien, was auf Dauer eintönig wirke, während das Titelstück "My Funny Valentine" von einer grossen Tiefe und Brillanz sei, die bislang von Miles nicht erreicht wurde. DEr Jazzmusiker Ian Carr (Nucleus) wiederum hielt das Album für eines der wirklich grössten Aufnahmen eines Livekonzertes. Das Album enthielt alle jene wunderschönen und in verhaltenen Tempi vorgetragenen Balladen von Miles Davis, die auf "Four & More" fehlten. Besonders fiel dies bei den Veränderungen auf, die die 15 Minuten lange Version von "My Funny Valentine" gegenüber der Einspielung vom September 1959 mit Bill Evans erfuhr: diese Version war von einer kraftvollen Bewegung bestimmt, weg von der Romantik (der Evans-Version) zu mehr Abstraktion. Der Gewinn einer differenzierten emotionalen Expressivität war unüberhörbar. Trotz der gelegentlich nur versteckten Referenzen an die Originalmelodie und der sehr freien harmonischen Annäherung (Davis: "Wir benutzen den ganzen Titel wie eine Tonskala") wurde die Struktur durchgehalten. Im Gegensatz zu früheren Aufnahmen spielte Miles Davis mit offenem Horn in höchsten Registern, ohne seine persönliche Note, den lyrischen Sound zu verlieren.
Die Schnelligkeit einiger Stücke dieses Abends war auch teilweise den Spannungen geschuldet, die sich in Fragen des kostenlosen Spielens stellten. Einige Bandmitglieder wollten lieber ihre Gage haben und dann selbst entscheiden, wie viel sie spendeten, aber Miles Davis blieb in der Sache stur. Herbie Hancock beschrieb später den psychischen Druck, der auf den jungen Bandmitgliedern lastete, weil sie zum ersten Mal in der neuen Carnegie Hall spielten. Der Tenorsaxophonist George Coleman verliess bald darauf die Band. Nach einer Interimslösung mit Sam Rivers, der Davis bei einer Japantournee begleitete, aber nicht ins Bandkonzept passte, erreichte Miles Davis, dass sein Favorit Wayne Shorter hinzustossen konnte. Damit entstand im September 1964 das klassische, sogenannte "zweite" Miles Davis-Quintett, das bis 1968 wirkte.
Die Live-Aufnahmen aus der "Philharmonic Hall" erschien wie eingangs erwähnt im Jahre 1964 zuerst unter dem Titel "Miles Davis: Four & More - Recorded Live in Concert" (Columbia Records CS 9106) und als "My Funny Valentine - Miles Davis in Concert" (Columbia Records CS 9253). Bei der späteren CD-Veröffentlichung wurden die beiden Alben dann erstmals unter dem Titel "The Complete Concert 1964: My Funny Valentine + Four & More" zusammengefasst. Die Aufnahmen erschienen auch zusammen mit weiteren Live-Aufnahmen der Miles Davis Formationen von 1963/64 auf der Columbia Records Zusammenstellung "Seven Steps - The Complete Columbia Recordings of Miles Davis 1963-1964" (Columbia Records C7K 90840). Wer sich also gerne den ganzen Abend dieser Live-Aufnahme anhören möchte, der sollte vielleicht besser auf die CD-Version zurückgreifen. Das pure Dynamik-Vergnügen erhält allerdings doch jener Hörer, der sich für die "Four & More" Platte entscheidet.
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