Nov 4, 2016

MOTORPSYCHO - The Death Defying Unicorn (Rune Grammofon RLP 3124, 2012)

Mit Jazzorchester und Streicher Oktett schrieb die Gruppe Motorpsycho aus Trondheim in Norwegen wie aus Versehen die Rockoper, die so wunderbar weit weg vom gängigen Klischee dieses Genres entfernt lag, wie das nur irgendwie möglich warDieses glückliche Versehen begann im Herbst 2009 mit einer einfachen Anfrage an den norwegischen Jazz-Keyboarder Stale Storlokken. Das norwegische Jazzforum fragte nämlich an, ob er es für möglich halten würde, zusammen mit der international längst sehr erfolgreich musizierenden Band Motorpsycho und dem Trondheimer Jazzorchester ein Konzert zu entwickeln, welches gemeinsam beim Molde International Jazzfestival 2010 aufgeführt werden sollte. Da Stale Storlokken und die Band sich schon über Jahre bekannt waren, eine Zusammenarbeit jedoch nie zustande kam, willigten beide umgehend in dieses ambitionierte Projekt ein. Schnell wurde deutlich, dass alle Beteiligten einen höheren Reiz und grösseren Gewinn darin sahen, neue Stücke zu schreiben, anstatt alte nur anders zu arrangieren. Nach einiger Zeit der Entwicklung entstand so die Idee, Streicher mit in das Projekt einzubinden, was ein Streicher Oktett nebst Meistergeiger Ola Kvernberg auf den Plan rief.

Inhaltlich grenzenlos und ohne vorher definierte stilistische Grundausrichtung, lief das Projekt in eine sehr offene und rauhe, vielleicht stellenweise überzogen jazzige Richtung. Das etwa zweistündige reine Instrumentalwerk, welches die Musiker am geplanten Datum aufführten, kam allen Akteuren eher relativ unausgegoren vor. Um diesen kreativen Knoten zu lösen, entschieden sich Storlokken und Motorpsycho dafür, mit dem Projekt aus überarbeiteten Versionen der Stücke für ein Doppelalbum aufzunehmen. Und das entpuppte sich als grosses Glück. Denn auch wenn im Jahre 2012 wohl niemand mehr mit einem Stück Musikgeschichte rechnen mochte, hatten Storlokken und die Band genau ein solches geschaffen. Das mochte vielleicht etwas überhöht klingen, wurde aber jedem klar, der sich nur wenige der Stücke angehört hatte, die den Zuhörer manchmal kurz und manchmal in epischer Breite erst verstörten und dann in die warmen Arme nahm. Wie ein Spielmannszug ohne Kopf zog das Projekt am Neujahrsmorgen durch eine menschenleere Stadt und fuhr den aufgeschreckten Schnapsleichen in Mark und Bein. Aus ihren Instrumenten wuchsen schwarze Ranken, die an ihren Enden bunte Blüten trugen. Sie zogen sich an den Wänden hoch und verwandelten die Stadt in ein schwarzbuntes Labyrinth. Wie ein Rattenfänger leitete die Stimme von Sänger Bent Saether durch die Gänge, wenn sie manchmal im teilweise undurchsichtigen musikalischen Dickicht auftauchte. Vorder- und Hintergrund der Musik tauschten heiter ihre Plätze und wenn man nur kurz eine der schönen Blüten betrachtete, war es eine Dornenranke, die den Zuhörer höchst unsanft von den Füssen holte. 

Dieses Album ist ein psychedelisches wie progressives Furiosum, sanft und hart zu gleichen Teilen und nie vorhersehbar. Nicht vergleichbar mit jeder beliebigen Band, die sich ein paar Streicher mietet. Diese Überraschung trifft einen schon beim Betrachten des Artworks. Ist die Aussenhülle kühl und nüchtern, fast sogar ernüchternd, so trifft einen das innere Gemälde unvorbereitet. Wie die Musik selbst ist das nur schwer zu umschreiben, nimmt einen jedoch sofort gefangen. Das muss man sehen. Sollte das fertige Werk nun noch einmal im Rahmen eines Konzertes aufgeführt werden, dann dürfte das ein Furiosum erster Güte werden, bei welchem sich die Konzertbesucher gegenseitig daran erinnern werden müssen, zu atmen. Jedem Progressive Rock Fan von YES bis PORCUPINE TREE muss dieses Album ans Herz gelegt werden. Dem MOTORPSYCHO-Novizen allerdings ist eher zu empfehlen, sich über einschlägige Internetseiten mit der über 20jährigen Historie der norwegischen Rocker vertraut zu machen. Das würde hier den Rahmen sprengen. Genauso sollte man dem MOTORPSYCHO-Neuling eher Alben wie "Trust Us" oder "Black Hole / Blank Canvas" als Einstiegsdroge empfehlen. Denn "The Death Defying Unicorn" ist ein derartig intensiv-verstörender und fordernder Brocken, dass er als Einstieg verschrecken könnte. Sich dann nicht weiter mit dem Werk zu beschäftigen, wäre ein Verlust für jeden Rockfan, der gerne mal über den musikalischen Tellerrand schaut und im Musikkosmos nach Sternen abseits des Mainstreams sucht.

Ich zähle mich zu den Psychonauten, wie man die langjährigen überzeugten Fans der Gruppe MOTORPSYCHO liebevoll nennt, und selbst mich hat dieses Rock-Monument beim ersten und gleichsam intensiven Hören ins Sofa zurückgedrückt. Ich wollte in das Konzeptalbum eintauchen wie ins Meer und wurde zunächst von mannshohen Wellen zurück an den Strand gespuckt. Womit wir gleich beim Thema wären: inspiriert wurde diese musikalische Tour de Force unter anderem von Homer's "Odyssee" und Herman Melville's "Moby Dick". Wer der englischen Sprache kundig genug ist, wird entsprechende Details dieser Havarie-Geschichte erkennen. Musikalisch kann man die sturmgepeitschte Hochsee mit nasskaltem Schiffbruch kaum besser bebildern. Wie manifestiert sich das musikalisch ? Zu allererst: Die Geschichte kommt als progressiver Rock der alten Schule, der zeitweise sehr an die frühen YES erinnert, ergänzt um acht Jazz-Bläserinnen (dem Trondheim Jazz Orchestra) und einem Streicherensemble, die den Rahmen des Rock'n'Roll immer wieder sprengen in Richtung Jazz oder Kammermusik. Manchmal findet auch alles gleichzeitig statt.

Ein jazziges Instrumental-Intro ("Out Of The Woods") gibt einen ziemlich fiesen Opener, in dem sich die elektrischen Gitarren einschleichen und schlussendlich das gesamte Rock-Orchester mobilisiert wird und den dramatischen Grundton des Albums vorgibt ("The Hollow Land"). Ein trügerisch dezenter Gesangspart mit Akustikgitarre bläst alsbald zum Aufbruch bei stetig steigendem Wellengang: das Rock-Chaos nimmt seinen Lauf. Das sich über 16 wahnwitzige Minuten erstreckende "Through The Veil" holt den fasziniert lauschenden Hörer nach einem Free Jazz inspirierten Intermezzo ab und bäumt sich dann sukzessive zu einem regelrechten Sturm auf. Der Horizont wird immer düsterer; Rock und Jazz peitschen gemeinsam die kalte Gischt ins Gesicht, das Schiff gerät vorübergehend in das Auge des Sturms, doch die Stille trügt. Im Instrumental "Doldrums" singen die Sirenen ihr trügerisches Lied, um die Seefahrer in die Tiefe zu locken. An dieser Stell macht das Album einen Ausflug in die Begleitmusik eines Soundtracks. "Into The Gyre" beginnt mit einer schönen, melancholischen Melodie, erstmalig auf diesem Werk übrigens. Was in diesen zehn Minuten passiert, klingt wie ein 40 Jahre altes Kleinod, das in YES-Archiven wiederentdeckt wurde; der Song wird nach 6 Minuten zu einem wirbelnden Mahlstrom, der letztlich die gesamte Mannschaft über die Planke gehen lässt. Im abschliessenden "Flotsam" treiben die Überlebenden zu dem Klang einer einsamen Violine in der ruhigen See und klammern sich an die Trümmerteile ihres Schiffes. 

Der zweite Teil dieses Epos nimmt einen kammermusikalischen Einstieg. "Oh, Proteus - A Prayer" beginnt wie ein Requiem - ein anschwellender Chor zu klagenden Streichern schafft eine Stimmung, die einen wie Blei hinunter in die Tiefsee ziehen will. Ein dunkler, verzerrter Bass drückt den Kopf unter die Wasseroberfläche, die beiden folgenden Intrumentals "Sculls In Limbo" und "La Lethe" malen mit nicht greifbaren Ambient-Klängen die dunkelblaue Unterwasserwelt vor Augen, wobei letzteres Stück mit anschwellender Dynamik und einem schön griffigen Saxophon-Solo nach fünfeinhalb Minuten so gerade noch erste Längen in der Story umschifft. Nach orchestralem Ausklang greift "Oh, Proteus - A Lament" noch einmal kurz das Klagelied vom Anfang auf, ehe sich die angejazzte Ballade "Sharks" fast lethargisch in ihr Schicksal ergibt. Eine energetische Orgel, Bläser, Streicher und der Rest der Band bäumen sich noch einmal auf und brechen sich in einem MOTORPSYCHO-typischen 70er Jahre-Rocker Bahn ("Mutiny!"). Ab Minute 2:48 verneigen sich die Norweger mit einem wohlbekannten Song-Intro vor den grossen Yes ("Changes", 1982) und ergehen sich in einem psychedelischen Gitarrensolo, denn was eingängig beginnt, muss ja nicht so beibehalten werden. Nach achteinhalbminütigem Dampf im Kessel geht "Into The Mystic" auf die Zielgerade, greift noch einmal das anfängliche Thema von "The Hollow Lands" auf, um mit einem versöhnlich optimistischen Paukenschlag recht abrupt zu enden.

"The Death Defying Unicorn" ist ein Konzaptalbum im besten, klassischen Sinne und holt die Progrock-Tradition der 70er Jahre mühelos und klischeefrei ins 21. Jahrhundert. Im musikalischen Gesamtkonzept gerät die stilistische Einordnung völlig zur Nebensache. Daher können die Richtungen Rock, Jazz und Kammermusik auch so hervorragend neben- und miteinander bestehen. Das Album hat eine sehr eigene Grundstimmung, die konsequent beibehalten wird - und das alles ohne breitflächige Keyboardteppiche und Elektronikspielereien, die heutzutage im Neo-Progressive Rock gern alles einebnen und zukleistern.

Das Album besticht zweifellos vor allem als Gesamtwerk: ein irrwitziges Monument, eine Hommage an die Musik, die sich nicht anbiedert, eine musikalische Vision, die hier kompromisslos ins Leben gerufen wurde, ohne kommerziell gefallen zu wollen. Und so kann man es lieben oder hassen - das bleibt Geschmackssache, aber wem es gelingt, sich auf dieses musikalische Manifest einzulassen, dem zaubert es ein Strahlen aufs Gesicht: virtuos, phantasievoll und hochklassig ist dieser Rock-Soundtrack allemal, und das muss im grossen Musikzirkus erst mal Jemand nachmachen. Sail on, Psychonauts!













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