AL STEWART - Modern Times (CBS Records 32019, 1975)
Beim bis heute eigentlich eher etwas unterbewertet gebliebenen Sänger und Songwriter Al Stewart denkt man, wenn überhaupt, am ehesten an seine beiden Werke "The Year Of The Cat" und vor allem an "Time Passages", die natürlich beide wirklich tolle Werke waren und zu einer Zeit erschienen, da Al Stewart sich auf dem Höhepunkt seines kreativen Schaffens befand. Dabei wird leider viel zu oft sein 1975 erschienenes Werk "Modern Times" vergessen, sein erstes von insgesamt drei Alben, die von Alan Parsons produziert worden waren. In punkto Songwriting hatte sich bei Al Stewart inzwischen recht viel verändert: Seine Songs waren wesentlich erwachsener, reifer geworden, und die Zusammenarbeit mit Alan Parsons schlug sich auch in den perfekten Arrangements nieder, die gegenüber Stewart's früheren Alben in der Tat einen wahren Quantensprung bedeuteten, auch wenn seine zwei Jahre zuvor veröffentlichte Platte "Past, Present & Future" bereits eine grosse Weiterentwicklung andeutete, die sich vor allem bei den zwei bis dato eher untypisch und für seine Songs überlangen Stücken "Nostradamus" und "Roads To Moscow" niederschlug. Alan Parsons setzte genau dort den Hebel an und arrangierte für Al Stewart acht grossartige Songs, welche die "Modern Times" zu einem wunderbaren Gesamtwerk entstehen liessen, das bis heute zu seinen qualitativ herausragendsten Veröffentlichungen gehört.
Das Erstaunlichste an Al Stewart's 1973 veröffentlichter Platte "Past, Present & Future" war, dass es das Album bis auf Rang 133 in den amerikanischen Billboard Charts schaffte, ohne dass eine Single aus dem Album ausgekoppelt worden wäre und auch ohne, dass es einzelne Songs des Albums öfters mal im Radio zu hören gegeben hätte. Was Al Stewart zu diesem Zeitpunkt also eigentlich noch fehlte, war ein zündender Hit, der ihn ganz nach oben bringen würde. Paradox war, dass sich in England meist kein Radiosender fand, der seine Songs spielte, währenddessen in Amerika besonders seine zwei Longtracks "Roads To Moscow" und "Nostradamus" in Themen-Radiostationen wie den Progressive Rock-Sendern WNEW-FM in New York oder WMMR in Philadelphia oft gespielt wurden, was zu dem nachhaltigen Verkaufserfolg des Albums in den USA führte. Es erstaunt deshalb nicht, dass Al Stewart und sein Manager Luke O'Reilly den musikalischen Fokus für das nächste Album "Modern Times" besonders auf den amerikanischen Markt richteten, wie O'Reilly sich erinnerte: "We wanted to make a folk rock record with fewer musicians and less production, to make it more accessible. So there was a very conscious effort to make the songs shorter and more rock'n'roll".
Al Stewart traf Alan Parsons, den späteren Produzenten von drei seiner kommenden Alben, in einem Londoner Restaurant. Zu jenem Zeitpunkt hatte sich Parsons bereits einen ruhmreichen Namen gemacht als Produzent etwa für Pink Floyd's Werke "Atom Heart Mother", das er aufgenommen und "Dark Side Of The Moon", das er produziert hatte. Al Stewart fragte Parsons, ob dieser vielleicht interessiert daran wäre, sein nächstes Album zu produzieren. Alan Parsons sagte sofort zu. Zu den Aufnahmen wurde eine Top Crew zusammengestellt, einerseits von Al Stewart, andererseits aber auch von Alan Parsons und seinen Mitarbeitern rekrutiert. Am Ende fand sich eine hochkarätige Truppe in den legendären Abbey Road Studios in London zu den Aufnahmen von Al Stewart's neuesten Kompositionen ein: der akustische Gitarrist Simon Nicol beispielsweise kam von den legendären FAIRPORT CONVENTION, der Gitarrist Tim Renwick spielte bei QUIVER (auch bekannt als Sutherland Brothers & Quiver) und war schon zuvor bei Al Stewart mit von der Partie bei früheren Aufnahmen. Dazu gesellten sich der begehrte Studiomusiker, Keyboarder Pete Wingfield, der Bassist George Ford, der mit seinem Bruder Emile Ford die legendären The Checkmates führte und ausserdem Gerry Conway, der Schlagzeuger, der bei FOTHERINGAY und in der Band von Sandy Denny trommelte. Mit einigen weiteren Studiomusikern, von denen der Schlagzeuger Barry De Souza, der Mundharmonikaspieler Graham Smith und der amerikanisch-kubanische Gitarrist Isaac Guillory ebenfalls sehr populäre und gut gebuchte Studiomusiker waren, wurden die Stücke für das Album eingespielt.
Mit diesen Top-Musikern entstand ein wundervolles, klassisches Singer/Songwriter-Album, das einerseits stilistisch sehr vielseitig ausfiel, andererseits aber absolut homogen und wie aus einem Guss wirkte. Mit dem hochmelodiösen Opener "Carol" kam endlich nach längerer Zeit wieder einmal eine Single heraus, die eigentlich hätte punkten müssen. Das Stück wurde auch ausgiebig, vor allem in England, im Radio gespielt, doch nichts bewegte sich. Die Single wurde zweimal in England aufgelegt, blieb jedoch ohne jegliche Resonanz, was Al Stewart ziemlich frustrierte damals: "The single didn't do anything. Still it's a very popular song. People ask me for it all the time." An Konzerten wird das Stück noch immer von den Fans weltweit verlangt und von Al Stewart auch gerne gespielt. Vom Arrangement her etwas an Procol Harum's Titel "Conquistador" erinnernd, war das nachfolgende Lied "Sirens Of Titan" vom gleichnamigen Buch des Schriftstellers Kurt Vonnegut inspiriert. "What's Going On ?" war der erste absolute Höhepunkt dieses Werks. Auf dieser mit leicht-fluffigem Latin Flair vor allem durch den Gitarristen Isaac Guillory erzeugten Folkie Nummer, die Al Stewart bei seinen Auftritten nicht selten bis zu 15 Minuten lang jammte, kam eine sehnsuchtsvolle Grundstimmung gepaart mit leichter Melancholie in einem von Mol-Tönen dominierten Song zum tragen, die so manchem Zuhörer feuchte Augen bescherte. In diesem Song konnte man alles nachhören, was den Musiker Al Stewart letztlich ausmachte: Eine grossartige Komposition, eine schwebend-feierliche Grundstimmung und über allem Stewart's einnehmende und bei diesem Song fast schon betörend melancholische Stimmfarbe. "Not The One" mit seiner irgendwie kalt klingenden Fender Rhodes klingt in der Tat wie ein grauer Novembertag und das spärlich instrumentierte und an die traditionelle englische Folkmusik erinnernde Stück "Next Time", das an die rein akustische Folkmusik etwa eines Bert Jansch oder John Renbourn erinnert, schliesst die erste LP-Seite etwas trist und traurig ab.
Wenn man die Platte umdreht, meint man dann plötzlich, eine andere LP aufgelegt zu haben. Hier kommt nämlich plötzlich ein ganz anderer Al Stewart, und zwar ein sehr amerikanischer zum Zug: "Apple Cider Re-Constitution": Was für ein toller Songtitel. Das ist ein klassischer amerikanischer Folkrock-Song, ganz in der Tradition etwa der frühen Eagles mit einem absolut hervorragenden Tim Renwick an der Lead Gitarre. Der Song ist lang, geht aber unvermindert immer weiter, ein echter "straight forward" Song wie ein stoisch geradeausfahrender Zug, in diesem Fall eines Zug, der an der Küste Kaliforniens entlang braust. Herrlich! Das nachfolgende, ebenfalls etwas längere, fast durchgängig in melancholischen Mol-Tönen gehaltene "The Dark And The Rolling Sea" unterstreicht Al Stewart's Vorliebe für die urigen sogenannten 'Seafarer'-Songs, eine Leidenschaft, die er mit der Musikerin Sandy Denny stets teilte. Spannend an diesem Song war die Herangehensweise bei der Aufnahme im Tonstudio: Al Stewart und Simon Nicol (Fairport Convention) spielten den Song mit zwei akustischen Gitarren, zu denen Tim Renwick lediglich einige Tupfer mit der elektrischen Gitarre beisteuerte. Eigentlich wollte Al Stewart den Song so belassen, entschied sich dann aber doch noch um, und baute im weiteren Verlauf des Songs eine komplette Bandbegleitung ein.
Der Titelsong "Modern Times" wurde von Al Stewart an das Ende der Platte gesetzt, und das hatte seinen guten Grund. In diesem Song liess der Musiker Revue passieren, und es war auch kein wirklicher eigener Song, denn ursprünglich stammte das Stück in rudimentärerer Variante von Dave Mudge, einem relativ unbekannten "Zigane" Folkmusiker, einem echten Gypsy also. Er schrieb die Melodie, aber gab ihr keinen Titel, weil er diese Melodie für verschiedenste Geschichten verwendete, die er zum besten gab. Al Stewart schrieb dazu einen völlig neuen eigenen Text, übernahm aber das im Refrain ständig wiederkehrende "lowly lowly low" vom Original des Zigeuners. Al Stewart's Geschichte erzählt in diesem Song vom unterwegs sein, von einem Tippelbruder und Freigeist, wie er beispielsweise in Jack Kerouac's Buch "On The Road" beschrieben wird, mit einem Rucksack auf der Suche nach der ultimativen Wahrheit. Und wie der Protagonist in Kerouac's Buch wird der von Al Stewart besungene Hobo am Ende desillusioniert sein und dieser ganzen modernen Zeit ablehnend gegenüberstehen. Al Stewart meinte zu dem Text und dem Song im allgemeinen einmal: "I think that kind of thing happened to lots of people who grew up in the 50's and 60's. By the time I made this song, there were some lost, disappointed souls out there. All die Ideale wie Selbstfindung, Askese und Freigeist fielen weg, als ein Bett und etwas zu essen wichtiger wurden als ein Schlafsack und der schöne, aber letztlich illusorische Gedanke an eine ultimative Freiheit ohne gesellschaftliche Zwänge. Wie es John Lennon im Song "God" schon 1970 richtig erkannt hatte: "The dream was over".
"Modern Times" war das sechste und letzte Album von Al Stewart für das Plattenlabel CBS Records. Als der Musiker sich nach einer neuen Möglichkeit umschaute, sein nächstes Werk zu realisieren, sprach er auch beim noch jungen Richard Branson und dessen Label Virgin Records vor. Al Stewart machte Branson das Angebot, dass er für den Betrag von 5000 Dollars die Rechte an seinem nächsten Album an Richard Branson abtreten würde. Nach einem ersten Interesse lehnte Richard Branson jedoch ab, weil er sich keinen kommerziellen Erfolg versprach. Zuerst enttäuscht darüber, fand Al Stewart jedoch bald darauf in der Plattenfirma RCA Records einen adäquaten Partner und strafte Richard Branson und auch sonst alle Kritiker Lügen mit der Veröffentlichung seines nachfolgenden Albums, das den Titel "Year Of The Cat" trug und 1976 ein grosser Erfolg wurde, dem zwei Jahre später mit dem Erfolgsalbum "Time Passages" noch ein weiteres folgen würde, das diesen Erfolg sogar noch toppen konnte.
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