Aug 14, 2016


PINK FLOYD - Atom Heart Mother (Harvest Records SHVL 781, 1970) 

1970, gut ein Jahr nach ihrer weitaus experimentellsten Platte mit dem ebenso verstörenden wie mysteriös klingenden Namen "Ummagumma" setzten Pink Floyd mit dem Werk "Atom Heart Mother" ihre Reise durch die Grenzbereiche der populären Musik fort, ja sie betraten als Pioniere wiederum Neuland. Pink Floyd waren insgesamt eine seltsame Band und sie haben auch einige auf den ersten Blick auch seltsam scheinende Platten kreiert. Auch die "Atom Heart Mother" galt immer schon als eine seltsame Platte, die jedoch noch heute Jeden in ihren Bann ziehen kann, er sich mit ihr einlässt. Für mich persönlich blieb es letztlich sogar das Lieblingswerk von Pink Floyd, auch wenn ich bekennender "Wish You Were Here"-Fan bin, aber fünf Jahre nach "Atom Heart Mother" war in kommerzieller Hinsicht bei der Band ohnehin längst nichts mehr wie vorher. Und ob nun "Dark Side Of The Moon" und "Wish You Were Here" tatsächlich einen qualitativen Quantensprung gegenüber einem solch verstörenden Werk wie "Atom Heart Mother" bedeuteten, darf an anderer Stelle vielleicht dikutiert werden. Vielleicht stimmt ja die Aussage von David Gilmour in einem Interview schon, als er, angesprochen auf die Entstehungsarbeiten zum kommerziellen Ueberflieger "Dark Side Of The Moon" sagte: "Wir wollten einfach Geld verdienen". Geld verdienen konnte die Band mit dem Werk "Atom Heart Mother" zwar auch schon, aber natürlich noch lange nicht auf dem Niveau ihrer späteren Welterfolge.

Das Kernstück der im Oktober 1970 erschienenen Platte "Atom Heart Mother" ist der über 23 Minuten lange Titelsong. Damals war bei progressiven Rockbands die Zusammenarbeit mit einem Orchester oder auch einem Chor sehr in Mode gekommen. Also versuchten sich die Herren Gilmour, Mason, Waters und Wright an einer Suite, in welcher sie sowohl mit einem grossen Orchester, als auch mit dem John Aldiss Choir zusammenarbeiteten. Manche dieser Kollaborationen klingen aus heutiger Sicht vielleicht etwas angestaubt, damals aber betraten sie mit diesem Mammutstück ziemliches Neuland. Pink Floyd begingen in der Zusammenarbeit mit Ron Geesin, der Roger Waters schon bei "Several Species Of Small Furry Animals Gathered Together In A Cave And Grooving With A Pict" unterstützte, nicht den Fehler, das Stück auf konservative Art zu arrangieren. Man kann sich das auch schwerlich vorstellen: "Atom Heart Mother" würde ähnlich süsslich klingen wie etwa "Days Of Future Passed" von den Moody Blues, auch wenn deren "Nights In White Satin" ein toller Song war und noch immer ist. In Nick Mason's sehr lesens- und empfehlenswertem Buch "Inside Out" kann man nachlesen, dass es nicht einfach war, das Orchester zur Mitarbeit an dem Stück zu bewegen. Klassisch ausgebildete Musiker hegten damals zumeist grosse Abneigung gegen Rockbands.

Das Mammut-Stück "Atom Heart Mother" besteht aus sechs einzelnen Teilen. Um eine Verbindung zum ebenso grandiosen wie verstörenden Plattencover von Hipgnosis herzustellen wurden den einzelnen Teilen Namen wie "Funky Dung" und "Breast Milky" gegeben. Ruhige Parts wechselten sich dabei mit dramatischen ab, melodiöse Teile mit zum Teil äusserst schrägen, ja fast avantgardistischen Sequenzen. Trotzdem passte am Ende alles sehr gut zusammen. Heute ist es vermutlich kaum mehr vorstellbar, dass Nick Mason und Roger Waters die Rhythmusspuren in einer einzigen ununterbrochenen Session einspielten, ohne irgendein anderes Instrument dabei zu spielen und auch ohne einen einzigen Fehler machen zu dürfen. Nick Mason beschreibt in seinem persönlichen Blick auf die Jahre mit Pink Floyd, dass diese Herausforderung die beiden auf eine harte Probe stellte und dass die metronomische Genauigkeit stellenweise sogar hörbar darunter litt. In unregelmässigen Abständen wurden Waters und Mason schneller und langsamer in ihrer Rhythmik, was aber insgesamt kaum ohrenfällig wird, weil der Zuhörer gerade bei dieser umfangreichen, üppig arrangierten und ungemein spannenden Suite stets von neuen Passagen gefordert wird, sodass rhythmische Schwankungen kaum auffallen.

Wenn am Ende das Feeling des Gesamtwerks stimmt, ist es okay. Schwierig wird es nur, wenn nach den Basic Tracks noch Overdubs hinzu gespielt werden müssen. Noch herausfordernder wird dies dann, wenn es ein ganzes Orchester oder ein Chor sein müssen. Manche Kritiker und Hörer meinen, dass es Pink Floyd erst mit dem ebenfalls die 20 Minuten-Marke sprengenden Stück "Echoes" vom Nachfolger "Meddle" gelungen ist, ein überlanges und wirklich überzeugendes Stück zu produzieren. Ich sehe das beileibe nicht so. Ich mag beide Stücke sehr gerne und empfinde keinen qualitativen Unterschied. Einen Unterschied gibt es natürlich vor allem in der Herangehensweise an die Suite, "Echoes" ist keine Suite, sondern ein langes Jam-Stück. "Atom Heart Mother" hingegen ist ein aus mehreren Abschnitten zusammengesetztes Werk, das auch unterschiedliche Stimmungen ausdrückt, insgesamt weniger psychedelisch als vielmehr experimentell wirkt und letztendlich eine konsequente Weiterführung des für den Vorgänger "Ummagumma" eingeschlagenen Wegs steht. Hinzu kam bei "Atom Heart Mother" lediglich das Orchester und der grosse Chor und damit einhergehend ein gewisses Mass an konkreter Melodieführung, obwohl gerade der John Aldiss Choir an bestimmten Stellen mit unverständlichem Singsang und undefinierbarer Sprach-Artikulation extrem psychedelisch wirkt.

Irgendwann gegen Ende des fünften Teils "Mind Your Throats Please" verkündet eine Stimme im Hintergrund des chaotischen Gewabers "Silence in the studio!", die ausgefranste Kakophonie endet und die Instrumente spielen danach wieder in abgestimmter Lautstärke und geordnetem Tempo weiter. Diese grosse Suite nimmt im Gesamtkatalog der Gruppe Pink Floyd bis heute eine Sonderstellung ein. Die Band hat später nie mehr auch nur ansatzweise etwas Vergleichbares arrangiert. Die beiden Toningenieure Peter Brown und Alan Parsons haben dieser Suite nachweislich ihren Stempel aufgedrückt und der Gruppe gezeigt, dass man selbst in kakophonischsten Momenten sehr funky und rhythmisch bleiben kann, und dabei trotzdem wie nicht von dieser Welt klingen kann. "Atom Heart Mother" klingt letztlich weder sphärisch noch psychedelisch, wie es imemr wieder gerne beschrieben wird. Die Suite klingt aus meiner Sicht hochgradig avantgardistisch, auch dadaistisch und lebt zu einem grossen Teil vom bestimmt nicht immer freiwillig gelebten Wagemut eines grossen Chors und eines klassischen Orchesters, das sämtliche Konventionen teils missbilligend und nur unter Widerspruch arrangierte und spielte und damit letztlich ein Werk schuf, das einzigartig geblieben ist.

Nach der grossen und die gesamte A-Seite der Platte einnehmenden Titel-Suite folgten auf der zweiten Seite des Albums vier irgendwie unzusammenhängende einzelne Stücke. Von Roger Waters stammte die auf diesem Album kaum zu erwartende wunderschöne Ballade "If". Ein stiller, folkiger und recht besinnlicher Song, der nach dem langen Titelstück für sehr viel Ruhe und folkige Leichtigkeit sorgte. Das Stück erinnerte ein wenig an das ebenfalls recht ländlich klingende Waters-Stück "Grantchester Meadows" auf der schwerverdaulichen Platte "Ummagumma", geriet aber irgendwie "offener" und strahlte viel Sonnenwärme aus, besonders im zweiten Teil, wenn die gesamte Band dezent einsetzte und vor allem das Klavier schöne Akzente setzte. Das nachfolgende "Summer '68" ist aus meiner Sicht nicht nur einer der besten Songs von Richard Wright, er gehört auch zum Besten, was unter dem Namen Pink Floyd insgesamt geschaffen wurde. In einem seiner wenigen Texte beschrieb Wright in dieser Nummer die negativen Aspekte des flüchtigen Lebensgefühls der späten 60er Jahre. Das Lied begann als Klavierballade und steigerte sich dann mit ineinander fliessendem Gesang zu einer fanfarenartigen Stimmung. Absolut erhaben und grandios in seiner Ausführung, ein Meisterstück noch heute! Dann kam David Gilmour kompositorisch an die Reihe: "Fat Old Sun" war ebenfalls ein wunderbares Lied und ebenso unspektakulär in seinem Arrangement. Atmosphärischer waren Pink Floyd nirgends auf diesem Album. Besonders bei dieser Nummer war die Diskrepanz zwischen dem avantgardistischen Titelstück und dem Schönklang der einzelnen Songs am deutlichsten zu hören.

Es folgte abschliessend mit "Alan's Psychedelic Breakfast" eine Art englisches Frühstück als Hörspiel. Sicher ist dieses Stück, das von allen vier Musikern gemeinam geschrieben und in Szene gesetzt wurde, vermutlich noch mehr als die Suite "Atom Heart Mother" für die meisten Hörer schwer einzuordnen und wohl auch wenig zu geniessen. Man vernimmt das Anzünden eines Streichholzes, die entzündete Gasflamme, das Brutzeln von Speck und den vor sich her murmelnden Pink Floyd-Roadie Alan Styles ("Marmalade, I like marmalade"), der auch zum Namensgeber des Werks wurde. Das Stück endet mit einem tropfenden Wasserhahn. Auf manchen Plattenspielern konnte man das Tropfen endlos weiterlaufen lassen.

Die Kuhbilder auf dem Plattencover schienen zunächst gar nicht zu einer Band wie Pink Floyd zu passen. Heute gehören "Lulubelle III" vom Frontcover und ihre Artgenossen zu den berühmtesten Plattencovern der Rockgeschichte. Der deutschen CD-Version der Platte ist ein Zettel mit Frühstücks-Tipps beigelegt. Hier findet man sowohl das Rezept für ein "Original fränkisches Kuhhirn Frühstück" als auch die Anleitung für ein "Traditional Bedouin Wedding Feast". "Atom Heart Mother" ist eines der ganz grossen Werke von Pink Floyd, das allerdings mit keinem anderen Werk vergleichbar ist. Wahrscheinlich hat es genau deshalb diesen kontroversen Stellenwert bei den Fans der Band: Die einen mögen es sehr, auf die anderen wirkt es bis heute verstörend. Für mich ist es schlicht die beste Platte des gesamten Frühwerks dieser Band, weil es irgendwie in seiner Ausführung die Möglichkeiten am besten widerspiegelt, was damals alles möglich gewesen wäre, hätten es andere Gruppen auch probiert. Natürlich gibt es auch weitere Bands und Musiker, die in jenen Tagen mit klassischen Orchestern und grossen Chören experimentierten (man denke zum Beispiel nur an Deep Purple und deren Werke mit Sinfonieorchestern), aber so avantgardistisch wie "Atom Heart Mother" geriet keine andere Platte.






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