PINK FLOYD - Atom Heart Mother (Harvest Records SHVL 781, 1970)
Das Kernstück der im
Oktober 1970 erschienenen Platte "Atom Heart Mother" ist der über 23
Minuten lange Titelsong. Damals war bei progressiven Rockbands die
Zusammenarbeit mit einem Orchester oder auch einem Chor sehr in Mode gekommen.
Also versuchten sich die Herren Gilmour, Mason, Waters und Wright an einer
Suite, in welcher sie sowohl mit einem grossen Orchester, als auch mit dem John
Aldiss Choir zusammenarbeiteten. Manche dieser Kollaborationen klingen aus
heutiger Sicht vielleicht etwas angestaubt, damals aber betraten sie mit diesem
Mammutstück ziemliches Neuland. Pink Floyd begingen in der Zusammenarbeit mit
Ron Geesin, der Roger Waters schon bei "Several Species Of Small Furry
Animals Gathered Together In A Cave And Grooving With A Pict" unterstützte,
nicht den Fehler, das Stück auf konservative Art zu arrangieren. Man kann sich
das auch schwerlich vorstellen: "Atom Heart Mother" würde ähnlich
süsslich klingen wie etwa "Days Of Future Passed" von den Moody
Blues, auch wenn deren "Nights In White Satin" ein toller Song war
und noch immer ist. In Nick Mason's sehr lesens- und empfehlenswertem Buch
"Inside Out" kann man nachlesen, dass es nicht einfach war, das
Orchester zur Mitarbeit an dem Stück zu bewegen. Klassisch ausgebildete Musiker
hegten damals zumeist grosse Abneigung gegen Rockbands.
Das Mammut-Stück
"Atom Heart Mother" besteht aus sechs einzelnen Teilen. Um eine
Verbindung zum ebenso grandiosen wie verstörenden Plattencover von Hipgnosis
herzustellen wurden den einzelnen Teilen Namen wie "Funky Dung" und
"Breast Milky" gegeben. Ruhige Parts wechselten sich dabei mit
dramatischen ab, melodiöse Teile mit zum Teil äusserst schrägen, ja fast
avantgardistischen Sequenzen. Trotzdem passte am Ende alles sehr gut zusammen.
Heute ist es vermutlich kaum mehr vorstellbar, dass Nick Mason und Roger Waters
die Rhythmusspuren in einer einzigen ununterbrochenen Session einspielten, ohne
irgendein anderes Instrument dabei zu spielen und auch ohne einen einzigen
Fehler machen zu dürfen. Nick Mason beschreibt in seinem persönlichen Blick auf
die Jahre mit Pink Floyd, dass diese Herausforderung die beiden auf eine harte
Probe stellte und dass die metronomische Genauigkeit stellenweise sogar hörbar
darunter litt. In unregelmässigen Abständen wurden Waters und Mason schneller
und langsamer in ihrer Rhythmik, was aber insgesamt kaum ohrenfällig wird, weil
der Zuhörer gerade bei dieser umfangreichen, üppig arrangierten und ungemein
spannenden Suite stets von neuen Passagen gefordert wird, sodass rhythmische
Schwankungen kaum auffallen.
Wenn am Ende das Feeling des Gesamtwerks stimmt,
ist es okay. Schwierig wird es nur, wenn nach den Basic Tracks noch Overdubs
hinzu gespielt werden müssen. Noch herausfordernder wird dies dann, wenn es ein
ganzes Orchester oder ein Chor sein müssen. Manche Kritiker und Hörer meinen,
dass es Pink Floyd erst mit dem ebenfalls die 20 Minuten-Marke sprengenden
Stück "Echoes" vom Nachfolger "Meddle" gelungen ist, ein
überlanges und wirklich überzeugendes Stück zu produzieren. Ich sehe das beileibe
nicht so. Ich mag beide Stücke sehr gerne und empfinde keinen qualitativen
Unterschied. Einen Unterschied gibt es natürlich vor allem in der
Herangehensweise an die Suite, "Echoes" ist keine Suite, sondern ein
langes Jam-Stück. "Atom Heart Mother" hingegen ist ein aus mehreren Abschnitten zusammengesetztes Werk, das auch unterschiedliche Stimmungen ausdrückt,
insgesamt weniger psychedelisch als vielmehr experimentell wirkt und
letztendlich eine konsequente Weiterführung des für den Vorgänger
"Ummagumma" eingeschlagenen Wegs steht. Hinzu kam bei "Atom
Heart Mother" lediglich das Orchester und der grosse Chor und damit
einhergehend ein gewisses Mass an konkreter Melodieführung, obwohl gerade der
John Aldiss Choir an bestimmten Stellen mit unverständlichem Singsang und
undefinierbarer Sprach-Artikulation extrem psychedelisch wirkt.
Irgendwann gegen Ende
des fünften Teils "Mind Your Throats Please" verkündet eine Stimme im
Hintergrund des chaotischen Gewabers "Silence in the studio!", die
ausgefranste Kakophonie endet und die Instrumente spielen danach wieder in
abgestimmter Lautstärke und geordnetem Tempo weiter. Diese grosse Suite nimmt
im Gesamtkatalog der Gruppe Pink Floyd bis heute eine Sonderstellung ein. Die
Band hat später nie mehr auch nur ansatzweise etwas Vergleichbares arrangiert.
Die beiden Toningenieure Peter Brown und Alan Parsons haben dieser Suite
nachweislich ihren Stempel aufgedrückt und der Gruppe gezeigt, dass man selbst
in kakophonischsten Momenten sehr funky und rhythmisch bleiben kann, und dabei
trotzdem wie nicht von dieser Welt klingen kann. "Atom Heart Mother"
klingt letztlich weder sphärisch noch psychedelisch, wie es imemr wieder gerne
beschrieben wird. Die Suite klingt aus meiner Sicht hochgradig
avantgardistisch, auch dadaistisch und lebt zu einem grossen Teil vom bestimmt
nicht immer freiwillig gelebten Wagemut eines grossen Chors und eines
klassischen Orchesters, das sämtliche Konventionen teils missbilligend und nur
unter Widerspruch arrangierte und spielte und damit letztlich ein Werk schuf,
das einzigartig geblieben ist.
Nach der grossen und
die gesamte A-Seite der Platte einnehmenden Titel-Suite folgten auf der zweiten
Seite des Albums vier irgendwie unzusammenhängende einzelne Stücke. Von Roger
Waters stammte die auf diesem Album kaum zu erwartende wunderschöne Ballade
"If". Ein stiller, folkiger und recht besinnlicher Song, der nach dem
langen Titelstück für sehr viel Ruhe und folkige Leichtigkeit sorgte. Das Stück
erinnerte ein wenig an das ebenfalls recht ländlich klingende Waters-Stück
"Grantchester Meadows" auf der schwerverdaulichen Platte "Ummagumma", geriet
aber irgendwie "offener" und strahlte viel Sonnenwärme aus, besonders
im zweiten Teil, wenn die gesamte Band dezent einsetzte und vor allem das
Klavier schöne Akzente setzte. Das nachfolgende "Summer '68" ist aus
meiner Sicht nicht nur einer der besten Songs von Richard Wright, er gehört
auch zum Besten, was unter dem Namen Pink Floyd insgesamt geschaffen wurde. In
einem seiner wenigen Texte beschrieb Wright in dieser Nummer die negativen
Aspekte des flüchtigen Lebensgefühls der späten 60er Jahre. Das Lied begann als
Klavierballade und steigerte sich dann mit ineinander fliessendem Gesang zu
einer fanfarenartigen Stimmung. Absolut erhaben und grandios in seiner
Ausführung, ein Meisterstück noch heute! Dann kam David Gilmour kompositorisch
an die Reihe: "Fat Old Sun" war ebenfalls ein wunderbares Lied und
ebenso unspektakulär in seinem Arrangement. Atmosphärischer waren Pink Floyd
nirgends auf diesem Album. Besonders bei dieser Nummer war die Diskrepanz
zwischen dem avantgardistischen Titelstück und dem Schönklang der einzelnen
Songs am deutlichsten zu hören.
Es folgte
abschliessend mit "Alan's Psychedelic Breakfast" eine Art englisches
Frühstück als Hörspiel. Sicher ist dieses Stück, das von allen vier Musikern
gemeinam geschrieben und in Szene gesetzt wurde, vermutlich noch mehr als die
Suite "Atom Heart Mother" für die meisten Hörer schwer einzuordnen
und wohl auch wenig zu geniessen. Man vernimmt das Anzünden eines
Streichholzes, die entzündete Gasflamme, das Brutzeln von Speck und den vor
sich her murmelnden Pink Floyd-Roadie Alan Styles ("Marmalade, I like
marmalade"), der auch zum Namensgeber des Werks wurde. Das Stück endet mit
einem tropfenden Wasserhahn. Auf manchen Plattenspielern konnte man das Tropfen
endlos weiterlaufen lassen.
Die Kuhbilder auf dem
Plattencover schienen zunächst gar nicht zu einer Band wie Pink Floyd zu
passen. Heute gehören "Lulubelle III" vom Frontcover und ihre
Artgenossen zu den berühmtesten Plattencovern der Rockgeschichte. Der deutschen
CD-Version der Platte ist ein Zettel mit Frühstücks-Tipps beigelegt. Hier
findet man sowohl das Rezept für ein "Original fränkisches Kuhhirn
Frühstück" als auch die Anleitung für ein "Traditional Bedouin
Wedding Feast". "Atom Heart Mother" ist eines der ganz grossen
Werke von Pink Floyd, das allerdings mit keinem anderen Werk vergleichbar ist.
Wahrscheinlich hat es genau deshalb diesen kontroversen Stellenwert bei den
Fans der Band: Die einen mögen es sehr, auf die anderen wirkt es bis heute
verstörend. Für mich ist es schlicht die beste Platte des gesamten Frühwerks
dieser Band, weil es irgendwie in seiner Ausführung die Möglichkeiten am besten
widerspiegelt, was damals alles möglich gewesen wäre, hätten es andere Gruppen
auch probiert. Natürlich gibt es auch weitere Bands und Musiker, die in jenen
Tagen mit klassischen Orchestern und grossen Chören experimentierten (man denke
zum Beispiel nur an Deep Purple und deren Werke mit Sinfonieorchestern), aber
so avantgardistisch wie "Atom Heart Mother" geriet keine andere
Platte.
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