Aug 15, 2016


TALK TALK - The Colour Of Spring (EMI Records EMC 3506, 1986)

Es gibt Bands wie Genesis, die fangen mit Progressive oder Art Rock an, und enden in der Popmusik. Dabei sind Genesis bei weitem nicht die einzigen. Sehr viele der klassischen Progressive Rock Bands sind später in ein gewisses Pop Rock Einerlei abgedriftet. Und so manches Mal ging das auch ziemlich in die Hose, weil diese zumeist an irgendwelchen kommerziellen Wunschglauben gekoppelten Veränderungen in der musikalischen Ausrichtung mit einem spürbaren Qualitätsverlust der Musik einher ging. Es gibt also so einige gute Gründe dafür sich zu ärgern, wenn aus kunstvollen Arrangements, perfekter Instrumentenbeherrschung, fantasievollen Texten und alle musikalischen Möglichkeiten ausschöpfenden Klangkosmen plötzlich schnell produzierte, auf den Massenmarkt getrimmte Mainstream-Popsongs mit stumpfen "I Love You"-Texten werden. Dass der genau entgegengesetzte Weg indessen ebenso möglich ist, zeigten die britischen Talk Talk um den Sänger und Komponisten Mark Hollis in den späten 80er Jahren. Sie starteten mit durchaus erfolgreicher Pop- und Discomusik (unvergessen ihr Hit "Such A Shame"), um sich dann Schritt für Schritt immer seltsamere, kunstvollere Klänge auszudenken, welche über ein erstaunlich unterhaltsames und dennoch qualitativ absolut kritikloses kreatives Meisterwerk zu einem der hervorragendsten Alben der 80er Jahre gereichten.

Talk Talk starteten 1982 mit dem Album "The Party's Over" als vierköpfige Synthie-Popband mit typischem 80er-Jahre Outfit. Nachdem der ursprüngliche Keyboarder Simon Brenner die Band verlassen hatte, machten Talk Talk als Trio weiter, immer ergänzt durch Tim Friese-Green, den Produzenten und Mit-Songwriter der Band. Mit "It's My Life" eroberte die Gruppe die Charts, inklusive den Hitsingles "It's My Life" und "Such A Shame". Jeder echte Fan des typischen 80er-Pop kennt und liebt diese Songs. Doch Talk Talk zeigten schon auf ihrem Werk von 1984, dass sie zu mehr als damals am Markt massiv verfügbarem Synthiepop fähig sind. Zwei Jahre nach dem erfolgreichen "Its My Life" erschien mit "The Colour Of Spring" das dritte Album von Talk Talk. Waren die Vorgänger vor allem instrumentell an vielen Stellen noch nicht voll ausgereift, wurde hier etwas vollbracht, das die Bezeichnung Meisterwerk absolut verdient. Die Instrumentierung ist ungeheuer anspruchsvoll und komplex und ich persönlich weiss oft nicht, ob ich den herrlichen Melodien, dem jederzeit wiedererkennbaren fragil wirkenden Gesang von Mark Hollis oder eben diesem vortrefflichen Klangteppich lauschen soll. Allem zugleich den notwendigen Respekt zu zollen ist sehr schwierig. Hier gelang die perfekte Synthese zwischen künstlerisch-technischem Anspruch und Eingängigkeit. Dementsprechend wurde die Platte die erfolgreichste und bekannteste der Band.

Schon die ersten Klänge des Openers "Happiness Is Easy" zeigen die stilistische Weiterentwicklung, weg vom Synthiepop hin zum Rock. Melodie, Gesang und Instrumente erscheinen so vorsichtig eingesetzt, der ganze Song scheint zu schweben und ist kaum fassbar. "Happiness is Easy", zu deutsch "Glück ist einfach", mit so einem hoffnungsvollen Song wollen Talk Talk also ihr neues musikalisches Kapitel einleiten. Allerdings ist die Stimmung alles andere als fröhlich, und auch der schöne Kinderchor im Hintergrund täuscht nicht darüber hinweg, dass die Welt von nun an nicht lustiger oder gar menschlicher wird, oder das Leben fortan von weniger Enttäuschugen geprägt sein wird. Alleine diese spannende, bis zum äussersten gereizte Schlagzeug-Einleitung wirkt faszinierend dunkel, einerseits sehr rhythmisch, aber auch total geheimnisvoll, trügerisch, unnahbar irgendwie. Punktuiert eingesetzte Perkussion und verhaltene Klavierakkorde beginnen das Stück. Schon kurz danach setzt Hollis' nölender, aber wunderschöner Gesang ein. Bass und akustische Gitarre spielen ungewöhnliche Patterns und Keyboards schweben geradezu im Hintergrund. Dazu ein befremdlicher, aber schöner Kinderchor, der manchmal ganz bewusst nicht die exakte Tonhöhe trifft. Verstörende Synthesizerklänge, die fast wie Trompeten klingen, bereichern den rhythmuslastigen Song. Das ist keine Unterhaltungsmusik mehr, das ist schon wirkliche Kunst. Mit zum genialen Schwebezustand dieser traumhaften Einstiegsnummer trägt der berühmte Musiker Steve Winwood, der auf diesem Stückeine ercshütternd schöne Orgel beiträgt und dem Song damit seinen unwiderstehlichen Charakter verleiht. Ein grossartiger Titel.

Akustische und elektrische Gitarrenklänge leiten die Ballade "I Don't Believe In You" ein. Hollis' sanfter Gesang ergänzt das Instrumentarium perfekt. Besonders gelungen ist auch hier wiederum die von Steve Winwood gespielte Orgel, die neben der elektrischen Gitarre, gespielt von Robbie McIntosh eine wundervolle, sehr intensive 80er-Jahre Atmosphäre erzeugt. "I Don`t Believe In You" wirkt sehr zurückgenommen, ja geradezu reduziert im Vergleich zum Opener, bietet aber die genau gleiche schwebende Leichtigkeit wie "Happiness Is Easy". Dieses schwerelose Element zieht sich eigentlich wie ein roter Faden durch die gesamte Platte, was vermutlich letztlich sogar die ganze Faszination, die von diesen Songs ausgeht, erst ausmacht. Der Song bringt dann das ganze Thema Misstrauen und Zurückhaltung auf den Punkt und kritisiert zynisch-scharf die verlogene Vetternwirtschaft unserer Gesellschaft, dessen Verantwortlichen man nicht mehr uneingeschränkt alles glauben darf, was sie einem erzählen, denn die Wirklichkeit, die sich häufig hinter der verschlossen Tür oder im Hinterstübchen abspielt, sieht meistens anders aus. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit fehlt mittlerweile fast überall in unserer Gesellschaft. "Hat es diese moralischen Tugenden eigentlich irgendwann einmal gegeben ?

Gegen dieses verhaltene Anprangern erscheint das nachfolgende "Life's What You Make It" wie ein plötzliches Hervorbrechen angestauter Spannung, die Kombination der Instrumente wirkt rauh und sphärisch zugleich. Ein Titel, der in idealer Weise künstlerischen und kommerziellen Anspruch vereint und deshalb damals zu Recht als erste Single ausgewählt wurde. "Life Is What You Make It" geriet in der Folge zum grössten Hit des Albums, dessen im Wald aufgenommenen Videoclip, auf welchem Kakerlaken herumkrabbelten, anzumerken war, dass die Band sich vom Pop rasant wegbewegte. Mark Hollis bediente hier das Klavier, er spielte eigentlich nur wenige Töne, die er dazu noch ständig fast schon einem Mantra gleich wiederholte. Sein zerbrechlicher Gesang und David Rhodes elektrische Gitarre, die von weiter Ferne zu kommen schien, erzeugten erneut diese mystische Grundstimmung. Paul Webb steuerte hier gar keinen Bass bei, weil das Klavier von Mark Hollis bereits für die tiefen Grundtöne sorgte. Dafür ergänzte er den Song im späteren Verlauf durch herrliche, optimal in das Gesamtbild passende Hintergrund-Stimmen.

Das folgende "April 5th" nahm die bisher kontinuierlich aufgebaute Spannung völlig heraus. Verhaltener Instrumenteneinsatz und Mark Hollis' ebenso zurückhaltener, in der Tat schon fast leicht depressiv wirkender Gesang führten durch ein Tal von Stille und Melancholie, das unendlich lang zu sein schien. Zum Ende hin hellte sich die Stimmung etwas, bevor sich der Titel mit dem langsamen Aussetzen der Instrumente ins Nichts zu verlieren schien - gleich dem Ende eines ersten Aktes. "April 5th" würde ich bis heute als einen der wohl herzzerreissend-schönsten Titel auf unserem Planeten Erde bezeichnen. Mit ordinärer Popmusik oder selbst mit anspruchsvollerem Art Rock hatte das kaum mehr etwas zu tun. Die geheimnisvoll raschelnde Perkussion, in Kombination mit Tim Friese-Green's verhaltenem Klavier bildeten das Grundgerüst hier. Hollis' wunderschöner, extrem zerbrechlicher Gesang und durch ihn und Tim Friese-Green gespielte Variophone liessen den Zuhörer die gewohnten Sphären verlassen und in andere vordringen. Dazu eine leise Orgel, ein ebenso überraschendes wie wundervolles Dobro, sowie ein wunderschönes, von David Roach gespieltes Sopran-Saxophon. Eine sehr minimalistische Komposition, die keine Note zu viel enthielt, stattdessen den Hörer jeden einzelnen Klang in seiner Gänze geniessen liess.

Aus diesem Traum erwachte der Hörer im tanzbaren "Living In Another World". Das Lied enthielt wieder perfekte Lead- und Background-Stimmen, sowie tolle Klavier-, Orgel-, Bass- und Gitarrenklänge. Mark Feltham's Mundharmonika sorgte hier aber besonders für den Kick. Mark Feltham, der sonst eigentlich eher im typisch britischen Rhythm'n'Blues und Rock'n'Roll beheimatet ist, der auch beispielsweise bei der Band Nine Below Zero mitspielt, trug hier mit seinem äusserst anspruchsvollen Mundharmonika-Spiel viel zur Gesamtstimmung des Songs bei. Bewusst wurden in dem Song auch Disharmonien eingebaut. Ein Stilmittel, welches für Talk Talk und insbesondere für Mark Hollis in späteren Jahren und auf Folgeplatten noch ganz typisch werden sollte. "Living In Another World" konnte sowohl als Neustart, aber auch als Fortsetzung begriffen werden. Es führte aus der Stille, nicht aber aus der Depression von "April 5th" heraus. Hohes Tempo und ein opulenter Instrumenteneinsatz trieben den Titel voran, der am Ende zum kraftvollsten Titel der Platte geriet. Der Dialog zwischen Hollis' weicher Stimme und den rauhen Instrumenten gelang hier wahrhaft überwältigend.

Das nachfolgende Stück "Give It Up" entschärfte sowohl das Tempo, wie auch die Rauhheit von "Living In Another World". Die Melodie zelebrierte Melancholie und Hoffnung zugleich und verbreitete auf eine rhythmisch ganz besondere Art fast so etwas wie einen leichten Wohlfühl-Effekt. "Give It Up" war ein Stück, bei dem man hörte, dass Talk Talk sich noch nicht ganz von der Popmusik verabschieden wollten. Ein schlichterer Titel, der aber ebenfalls deutlich in der frühlingshaften Abendstimmung des Albums perfekt eingebettet worden war. Mit seinem langsamen, behutsamen Ausklingen erfolgte gleich darauf ein radikaler Umschwung zum nachfolgenden "Chameleon Day". Hier wurde Stille zum bestimmenden Element, die durch einen sparsamen, aber extrem wirksamen Instrumenteneinsatz sowie Hollis' fast flüsternder Stimme strukturiert wurde. Manche könnten diesen Titel auch wegen seiner Kürze für einen Lückenfüller halten, in gewisser Weise war er das wohl auch. Der Song funktionierte aber trotzdem als unabhängige Einheit. Im Rahmen dieses Albums wirkte er wie ein tiefes Luftholen vor dem finalen Akt. "Chameleon Day" bedeutete letztlich vor allem musikalisch perfekt inszenierter Minimalismus. Nur Tim Friese-Greene und Mark Hollis waren hier auf der Besetzungsliste zu finden. Ein absolut kakophonisch wirkendes Variophon und verhaltenes Piano sind die einzig verwendeten Instrumente. Ein extrem ruhiger Song ohne richtige Struktur. Dazu Hollis' Gesang, der hier schon wirklich in der Seele weh tat. Hier ahnte man, dass der Sänger stellenweise an Depressionen litt. Solch einen tieftraurigen, merkwürdigen Song konnte wohl nur Jemand aufnehmen, dessen Seele auch wirklich dunkle Flecken aufweist.

"Time It's Time", der finale Song dieses in der Tat in jeder Hinsicht berauschenden Albums war dann wieder deutlich rhythmusgeprägter. Im Vergleich zum unstrukturierten "Chameleon Day" schon fast gemütliche Popmusik. Dieses Stichwort darf allerdings in Zusammenhang mit Talk Talk spätestens seit Stücken wie "Renée" nicht mehr fallen. Der finale Akt war zugleich mit 8 Minuten der längste Titel dieses Werks. Die Gesangsmelodie stach hier besonders hervor, die unter anderem von einem Chor vorgetragen wurde. Und was für ein Akt "Time It's Time" war. 8 Minuten absolute Erhabenheit, 8 Minuten Brillianz in Melodie und Instrumentierung. 8 Minuten im Wechsel zwischen Melancholie und Hoffnung, wobei gerade die letzten zweieinhalb Minuten wie ein wehmütig in Länge gezogener Abschied wirkte. Es erstaunt in der Betrachtung des Gesamtwerks nicht, dass dieser epische Titel von vornherein als Abschied konzipiert worden war. Er wirkte wie eine letzte Synthese aus Anspruch und Zugeständnis an eine breite Hörerschaft. Hier fiel es dem Zuhörer vermutlich besonders schwer, das Album quasi "gehen" zu lassen. Man konnte das Ende der Platte buchstäblich spüren und wurde ohne es zu wollen gleich tieftraurig.

Die Platte "The Colour Of Spring" stellte den über jeden Zweifel erhabenen Abschluss der ersten kommerziellen Phase im Schaffen dieser aussergewöhnlichen Band dar. Die beiden noch nachfolgenden Alben "Spirit Of Eden" und "Laughing Stock" gingen einen völlig anderen Weg, von dieser wunderbaren Kombination aus Eingängigkeit und höchstem Anspruch hin zu reiner Kunst, reinem Anspruch. Leider musste dieser Umschwung mit dem Verlust der meisten Fans und dem Verschwinden von der grossen Weltbühne bezahlt werden. Aber wer weiss: Mark Hollis und Tim Friese-Greene betonten mehrfach, dass die Entwicklung folgerichtig gewesen sei. Und wenn man sich die Entwicklung der Musik vor Augen führt, wird es deutlich, dass es nach diesem Spurwechsel keinen Weg zurück gab. Der Manager der Band sagte seinerzeit, dass ihm drei weitere Alben nach der Art von "The Colour Of Spring" lieber gewesen wären. Vielleicht hätte die Band dann einen grösseren Bekanntheitsgrad erlangen können und würde von den meisten Hörern nicht auf die Synthesizer-lastigen Hits ihrer frühen Phase reduziert werden. Wobei: Ein aussergewöhnliches Schaffen, das mit fünf Alben die wesentlichen Stile moderner Musik abdeckt und trotz der Verschiedenartigkeit seiner einzelnen Teile doch als ehrwürdiges, über jeden Zweifel erhabenes Gesamtwerk erfasst werden kann, ist genauso beeindruckend und nachhaltig. "The Colour Of Spring" leitete diesen ebenso ungewöhnlichen, wie auch kreativ über jeden Zweifel erhabenen Weg ein, und prompt war die Band beim Art Pop gelandet, bevor sie mit den letzten beiden Alben den sogenannten 'Post Rock' erfanden, um anschliessend im Nichts zu verschwinden. Spätestens mit ihrem dritten Werk, dem phantastischen "The Colour Of Spring", begeisterten Talk Talk auch die Fans des Progressive Rock, zu dem der Art Pop und Post Rock zweifellos dazuzählt.


No comments:

Post a Comment