TELEVISION - Marquee Moon (Elektra Records 7E-1098, 1977)
In der Punk-Szene war das virtuose, durchaus jazzbeeinflusste Zusammenspiel von Richard Lloyd und Tom Verlaine ein absolutes Novum. Die beiden Musiker hatten die Trennung von Lead- und Rhythmusgitarre zugunsten komplexer, ineinandergreifender, kontrapunktischer Strukturen aufgehoben. Die Gitarren ergänzten sich, obwohl sie oft tonal und rhythmisch radikal unterschiedliches Material spielten. Diese Art des Gitarrenarrangements übte einen gewichtigen Einfluss etwa auf die Gruppen The Police, U2, Dream Syndicate, The Rain Parade, Russ Tolman's True West oder The Church aus. Bis heute orientieren sich viele junge Gitarrenbands an dem Vorbild Television, darunter beispielsweise The Strokes. Marquee Moon ist das Debütalbum der New Yorker Proto-Punkband Television. Das Album "Marquee Moon" wurde am 8. Februar 1977 auf dem Label Elektra Records veröffentlicht. Das Werk gilt heute als einer der grossen Klassiker des Proto-Punk und als eines der einflussreichsten Rockalben überhaupt. Der Rolling Stone listete es in seiner 2003 veröffentlichten Liste der 500 besten Alben aller Zeiten auf Platz 130. Obwohl das Album in erster Linie positive Kritik erntete, blieb das Album in den Vereinigten Staaten ein kommerzieller Misserfolg. In England hingegen kletterte "Marquee Moon" schon im Folgemonat nach der Veröffentlichung bis auf Platz 28 der nationalen Albumcharts. Auf dem Cover war ein Porträt der Band zu sehen, welches vom legendären Robert Mapplethorpe fotografiert wurde.
"They are one band in a million; the songs are some of the greatest ever". Mit diesen Worten beendete der bekannte britische Musikjournalist Nick Kent seine zweiseitige positive Plattenkritik im New Musical Express, als das Werk erschienen war. Damit nicht genug, hievte die Zeitschrift die Band auch gleich auf ihre Titelseite. Dabei entsprach das Album musikalisch absolut nicht dem gängigen Trend anderer Bands, die sich im Umfeld des CBGB Clubs in New York tummelten: Television waren keine Punk-Band wie all die anderen. Sie waren eher eine Artrock-Band, die sich gewisser Stilelemente der Punkmusik bediente, jedoch wesentlich ausgefeilter und differenzierter ans Werk gingen als bloss den simplen und rüpelhaften 2- bis 3-Minutenkrach zu produzieren.
Weder konnte man Television's Stil mit den typischen amerikanischen Punk-Vertretern The Ramones, The Dickies oder der Anti-Nowhere League vergleichen, noch mit den Mainstream-Rockbands jener Jahre. Vielmehr war Tom Verlaine stark von progressiven Bands, aber auch von Artrockbands inspiriert. Als grössten Einfluss jedoch sah der Musiker selbst die Gruppe The 13th Floor Elevators, einen Einfluss, den er beispielsweise mit Robert Plant von Led Zeppelin teilte. Ausserdem nannte Verlaine auch die nicht alltäglichen und teilweise experimentellen musikalischen Spielereien der Progressive Rockband Yes, die sich manchmal stark an Mustern und Figuren aus der klassischen Musik orientierten. Diese teilweise gewollt und auch gekonnt schrägen Stilelemente verbauten Tom Verlaine und Richard Lloyd in ihren Songs zumeist fast schon spartanisch wirkend mit zwei Gitarren, die fast immer ohne irgendwelche Effektgerätschaften auskamen. Dies erzeugte in ihren Liedern eine Art manisch wirkende Magie, eine Faszination, die einerseits durch sehr einfache Klänge entstand, andererseits aber trotz ihrer Schlichtheit sehr mysteriös und geheimnisvoll wirkte. Am ehesten könnte man diesbezüglich vielleicht die britische Band Be Bop Deluxe nennen: Deren Kopf Bill Nelson erzeugte in etlichen Songs eine ähnliche Spannung durch unerwartete und bisweilen leicht entrückt wirkende Stilelemente. In einer Zeit (Mitte der 70er Jahre), da der Bombast in der Rockmusik Einzug hielt und bald jeder Gitarrist mit haufenweise Effektgeräten experimentierte, orientierten sich Verlaine und Lloyd genau in entgegengesetzter Richtung: Die 60er Jahre Gitarren-Sounds, oftmals clean und effektfrei, wurden zum typischen Markenzeichen der Band Television. Mit diesem ungewöhnlichen Stilmittel schuf sich die Band einen damals einzigartigen Sound, der sie von allen anderen Gruppen hörbar unterschied.
Auch textlich hoben sich Television deutlich von anderen, dem Punk-Genre zugeschriebenen Bands und Musiker ab. Anstelle von zumeist sehr oberflächlichen, oftmals in Fäkalsprache herausgeplärrten Prolo-Messages, boten Television teils der klassischen Literatur entlehnte und recht mystisch anmutende Songtexte, deren Passagen durchaus auch einmal an die Schriftsteller William Blake oder J.R.R. Tolkien erinnerten, beispielsweise die Zeilen "I understand all destructive urges, they seem so perfect, I see no evil" im Opener des Albums "See No Evil". Oder sie zelebriereten den Rock'n'Roll-Lebensstil, indem sie sich offen weigerten, erwachsen, respektive älter zu werden: "I don't want to grow up, there's too much contradiction, too much friction" ("Friction"). Wenn andere Punkbands der ganzen Welt bewiesen, dass man über nicht allzuviel Talent und Können verfügen musste, um Rock'n'Roll spielen zu können, so bewiesen Television genau das Gegenteil, nämlich dass man exzessiven Sound betrieben konnte, ohne dabei primitiv oder amateurhaft klingen zu müssen. Dass der künstlerische Approach schon früh in der Vita der Band zu finden war, bewies schon 1975 die in 60er Jahre typischem Mono-Klang veröffentlichte Single "Little Johnny Jewel", die viel zu lang geriet und deshalb in zwei Seiten aufgeteilt wurde: Das Stück "Little Johnny Jewel" wurde aufgrund seiner Songlänge von gut 7 Minuten in zwei Teile aufgeteilt und auf die Seite A und B der Single als Part One und Part Two bezeichnet.
Aehnliches kannte man schon seit den ganz frühen 70er Jahren, so hatten beispielsweise auch die Gruppen Fleetwood Mac ("Oh Well") oder Yes ("And You And I Parts One & Two") Longtracks hälftig auf Singles gepresst. Terry Ork, der damalige Manager von Television, veröffentlichte diese Single auf seinem eigenen kleinen Independent-Label Ork Records. Aufgenommen wurde das später geteilte Stück auf eine Vierspur-Maschine mit insgesamt 6 Mikrophonen. Auch wenn Musiker wie Lou Reed die Meinung vertraten, dass es durchaus legitim sein, solche zweiteiligen Singles aus langen Stücken zu fertigen, so war Tom Verlaine eher dagegen, denn er ging davon aus, dass so eine nicht radiotaugliche Single kaum aufgeführt werden würde und sich deshalb wohl auch nicht grossartig verkaufen könne. Alles in allem unterstrich diese ungewöhnliche erste Single jedoch schon eindrücklich das radikale Konzept der Gruppe, die sich ganz besonders uach mitt dieser ersten Veröffentlichung gegen jegliche Trends stellte: Damals sah man alles in einem Song, was über eine Länge von 3 Minuten hinausging, als überflüssigen Ballast an, dies ganz besonders in der Punk-Ära, wo Singles kaum je länger als 2 Minuten gerieten.
"What I want, I want now!" singt Tom Verlaine am Anfang des Albums und am Schluss im letzten Song, wenn er den "Torn Curtain" besingt: "Burn it down!". Niederbrennen ist das Stichwort: Die Band legte Feuer an die saturierten Sounds der selbstgefälligen Supergroups der 70er Jahre. Dabei gehörten die Musiker um Sänger, Gitarrist und Mastermind Tom Verlaine nicht zur üblichen Lumpenbrigade des Punks. Sie waren ausgefuchste Musiker, qualitativ hervorragend in ihren Darbietungen und längst schon reich an Erfahrung. Sie spielten teils lange Songs, ausgefeilte Kompositionen und brillierten durch einen äusserst eigenständigen Sound. Statt auf Hochglanz setzte die Band auf coole Eleganz und ein völlig unprätentiöses Gebaren. Ihr Debutalbum ist die schillerndste Blüte des New Yorker Undergound. Die Band selbst konnte auf späteren Alben diese einmalige Atmosphäre und diesen Mix aus optischer Unnahbarkeit und musikalischem Einnehmen nicht mehr wiederholen. Songs wie "Venus" oder das wunderbare "Elevation", der hochkarätige Rocker "See No Evil" und das überlange epische Titelstück bleiben für immer auf dem Rock-Olymp ganz oben und sie weisen die unstete Gruppe zweifellos als Vertreter einer neuen, urbanen Musikergeneration aus. Mit dieser Platte hielt die anspruchsvolle Kunst schon im Punkbereich Einzug, bevor dieser überhaupt so richtig durchgebrochen war. Schon bei diesem phantastischen Werk 1977 war jedem einigermassen beflissenen Kunstkritiker klar, dass man Punkrock nicht einfach nur als tumben, stecknadelbewehrten Dilettantismus wahrnehmen darf.
"Marquee Moon" ist eine der unvergänglichsten Gitarrenplatten, die man sich anhören kann.
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