ANUBIS - A Tower Of Silence (Bird's Robe Records BRR011, 2011)
"A Tower Of Silence" ("Ein Turm der Stille") ist das zweite Album der australischen Symphonik Progressive Rocker ANUBIS. Australien ist ein Land, das, obwohl eher weniger für progressive Rockbands bekannt, zeigt, dass es auch in Down Under noch immer hervorragende Bands aus diesem musikalischen Bereich zu entdecken gibt. Wie bei anderen Bands aus diesem musikalischen Bereich üblich, bilden auch bei ANUBIS die vielen, ausnahmslos perfekt arrangierten Interaktionen zwischen exquisiten Keyboardlinien und meisterlichen Gitarrenläufen das zentrale musikalische Element. Komplexe Momente wechseln sich ab mit wundervoll einfachen Mustern, es dominieren jedoch stets die grossen Melodien, phantasievoll in Szene gesetzt durch eine durchdachte Progression von einfachen Akkorden. Das Album bietet ätherische Klanglandschaften vom allerfeinsten, ergreifende Themen und herrlich lange Instrumentalpassagen, die den Zuhörer regelrecht davontragen. Die Band verwöhnt den Hörer mit einem grossen Variantenreichtum, bei welchem stets die Melodie im Vordergrund steht, die nie auch nur annähernd irgendwie krampfhaft wirkt, schon gar nicht nach etwelchen intellektuellen Ansprüchen schielt: ANUBIS spielen keinen Kopf-, sondern einen unwahrscheinlich schönen Bauch- und Herz-Prog.
Die Gruppe ANUBIS besteht aus Robert James Moulding (Gitarre und Gesang, Perkussion, zusätzliche Keyboards und Soundeffekte), David Eaton (Keyboards, Gitarre), Douglas Skene (Gitarre, Gesang), Dean Bennison (Gitarre, Klarinette, Gesang), Nick Antoinette (Bass und Gesang), sowie Steven Eaton (Schlagzeug, Perkussion und Gesang). Als Gastmusiker sind ausserdem Martin Cook, der Flöte und Saxophon beistert, Katrina Shaw und Becky Bennison als Gastsängerinnen zu hören. Produziert hat das Album der Gitarrist Dean Bennison.
Das Album folgt einem Konzept, bei dem das Thema so aussergewöhnlich wirkt, wie die Musik einnehmend ist: Es erzählt die Geschichte eines elf Jahre alten Mädchens, das in einem Schwebezustand gefangen ist. Es lebte und starb im England des 19. Jahrhunderts in einem Kinderheim. Viele Jahre später dringt eine Gruppe Teenager in das verfallene Gebäude ein,
genauer gesagt in einen Teilbereich der ehemaligen Station, auf welcher das elfjährige Mädchen damals viel psychisches und physisches Leid ertragen musste. Die Gruppe dieser Teenager beginnt ein Spiel, das die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit aus dem Gebäude zum zentralen Inhalt hat, ohne dass Jemand der Mitspieler dies mitkriegt. Letztlich soll diese Geschichte aufzeigen, dass sich Niemand unbemerkt sowohl im Diesseits, wie im Jenseits bewegen kann, und dass alle Menschen sich weder im Leben noch nach dem Tode frei bewegen können, weil sie stets Gefangene sind und bleiben. Das Album kann als Metapher für jede Art von Haft, ob Depression, Verlust oder unheilbarer Krankheit dienen. Das Thema, zwischen zwei Ebenen gefangen zu sein, ist das zentrale Konzept des Werks. Auf der Reise zwischen diesen Ebenen befasst sich das Album mit Entfremdung, sozialer Kluft zwischen Arm und Reich und sogar der Frage des Lebens nach dem Tod.
Das Album beginnt mit "The Passing Bell", einem epischen, ja majestätisch zu nennenden Stück. Eine Lawine prächtigster Melodie-Elemente, voller ungewöhnlicher, aber stets hörfreundlicher Momente und wunderbar fliessender organischer und emotionaler Resonanzen. Besonders schön wirkt die Art, wie der Titel stets in seinen einzelnen Segmenten variiert. Einige Passagen erinnern dabei an King Crimson, andere, weichere Momente wiederum an Pink Floyd, die mehrstimmigen Chöre bisweilen auch an Genesis, aber immer gehen ANUBIS ihren eigenen musikalischen Weg und bleiben damit spannend ohne Ende. Alle Instrumente sind wohlgewählt und in äusserst inspirierter Form dargeboten, eine sehr emotionale Stimmung verbreitend. "The Passing Bell" ist ein bemerkenswert schönes Stück, das während seiner gesamten 17 Minuten Spielzeit von einer hervorragend gespielten David Gilmour-Gitarre dominiert wird, später die Führung einem phantastischen Klavier abgibt und verträumt und spannend zugleich klingt.
"Archway Of Tears" beginnt mit einem gefühlvollen akustischen Intro. Das Stück weiss mit einem sauberen, lebendigen und leidenschaftlichen Gesang zu gefallen. Hier hört man deutliche den Einfluss einiger typischer Neo Progressive Bands wie etwa I.Q, ARENA und PENDRAGON. Die akustischen Passagen harmonieren perfekt mit einem Mellotron."The Final Resting Place" ("Die letzte Ruhestätte") bietet wieder grosses Ohrenkino. Der knapp 8 1/2 Minuten lange Song wird durch eine äusserst warme Orgel getragen. Die Nummer verfügt über einen dynamischen Grundsound, in welchem verschiedene Instrumentalteile abwechselnd interaktieren. Ein perfekt inszeniertes Glockenspiel bildet den Höhepunkt hier. Das Stück ist das Lied auf dem Album mit der grössten Reflexion über den Tod.
Das nachfolgende Titelstück "The Tower Of Silence" ist ein melancholisches Meisterstück mit starken Texten über die Tragödie des Todes und die Geister, die sich inmitten der Lebenden bewegen und zwischen den Welten pendeln. Es beginnt mit einem schönen Klavier, einer Gitarre auf einem üppigen instrumentalen Fundament, das vom kontinuierlich einsetzenden Schlagzeug langsam eine rhythmische Form annimmt und kontinuierlich Fahrt aufnimmt. Textlich geht es in dem Stück darum, wie wir uns mit Schmerz beschäftigen und uns mit der Linderung schwertun, indem wir manchmal bewusst leiden wollen, eine Art Selbstgeisselung. Hier erlebt der Zuhörer erneut sehr eindrücklich das Konzept des Albums, das die Traurigkeit und Reflexion eines Geistes nachzeichnet, der in einem selbst auferlegten Grab gefangen ist und sich oft nicht in der Lage sieht, daraus zu entkommen. Ein erstaunlicher Song wieder, der die Macht hat, mehr und mehr in den Hörer hineinzuwachsen.
Der kürzeste Track auf dem Album ist "Weeping Willow". Ein eingängiges Stück mit glatten Harmonien. Es verfügt über eine äusserst angenehme Melodie, die vor allem durch den mehrstimmigen Gesang eine angenehme Opulenz erfährt, die alles andere als überladen wirkt. "And I Wait For My World To End" überzeugt durch ein äusserst räumliches Klangbild und wird dominiert von einem starken Gitarrenriff, einem pulsierenden Bass und einem sehr energetischen Schlagzeug. Es bietet wiederum eine dieser unvergesslichen Melodien, wie sie beispielsweise auch Pink Floyd oft perfekt umgesetzt hatten und aus unscheinbaren Motiven letztlich Ohrwürmer schufen, die man nicht mehr vergisst.
Das fast 12 minütge "The Holy Innocent" ist ein fast tantrisch wirkendes Jam-Stück, das mit einem gleichmässigen Rhythmus wunderbar fliessend arrangiert ist. Hier versucht der Protagonist im Songtext verzweifelt, Hilfe zu erhalten, um von der einen in die andere Dimension zu gelangen, weil er wie gelähmt nicht fähig ist, sich für die eine oder die andere Dimension zu entscheiden. Auch hier kann man wiederum von einer gelungenen Metapher über das Leben und den Tod sprechen, sowie dem in einer Zwischenwelt Gefangenen. Der Text steht letztlich auch als Sinnbild für die Unfähigkeit vieler Menschen, selbst über ihr Leben zu entscheiden und den mangelnden Mut, neue Türen aufzureissen, von denen sie glauben, dass sie für ewig verschlossen bleiben würden. Die Musik klingt hier schon fast wie eine Mischung aus PORCUPINE TREE und I.Q, jedenfalls in bestimmten Teilen des Stücks. Der Song endet mit einem sensationell schön gespielten Saxophon-Solo, das die Band auf ein Top-Niveau hievt, und dieses Stück zu einem der absoluten Höhepunkte des gesamten Albums werden lässt. Die Art und Weise, wie das Saxophon und die Keyboards hier miteinander verschmelzen, erinnern win bisschen an den Song "Money" von Pink Floyd.
Das Album endet mit dem ausladenden "All That Is", einer musikalischen Suite, in drei Teile gegliedert. Der erste Teil mit dem Untertitel "Light Of Change", wird durch ein hervorragend gespieltes Mellotron dominiert, bietet tolle Gitarrentupfer und nur spärlich eingesetzte, jedoch punktgenau arrangierte Schlagzeug-Spielereien. Der reflektierende Gesang und die warme und schöne Hammondorgel, die dieses spannende und transparente Arrangement ergänzen, sowie die zusätzlichen Synthesizer-Klänge leiten träumerisch in den zweiten Teil der Suite ein. "The Limbo Of Infants" ist der konkreteste Teil, verfügt über eine gute stimmliche Kadenz, wirkt energisch, bevor dieser Teil nach einer kleinen instrumentalen Pause in den letzten Teil überleitet. "Endless Opportunity" beendet das Album. Es bietet noch einmal einen grossartigen melodischen Bogen, basierend auf wundervoll in Szene gesetzten Harmonien, anschwellend und wieder ausklingend, von einer unbändigen Spielfreude und grossen kreativen Kraft zeugend. Ein mächtiges Gitarrensolo und ein ebenso majestätisches Keyboard-Solo bieten einen perfekten musikalischen Höhepunkt dieses tollen Werks. Hier klingt die Band genauso, als würden die Engel endlich angekommen sein, um die in sich selbst gefangenen Geister zu befreien.
Fazit: Eine äusserst konsistente Erzählung, verpackt in ein traumhaft schönes Album mit ausschliesslich grossartigen musikalischen Momenten. "The Tower Of Silence" ist leider nur wenigen Musikliebhabern bekannt, hat aber klar das Potenzial, ein echter Klassiker des symphonischen Progressive Rock zu werden, dessen Stellenwert man vielleicht eines Tages entdecken und anerkennen wird.
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