Jun 19, 2016


HAKEN - The Mountain (Inside Out Music IOMLP 388, 2013)

Zu den kleinen Wundern des sogenannten Musiklebens unserer Zeit gehört der erfreuliche Umstand, dass der in den 70er Jahren entwickelte, dann von kriecherisch-überangepassten und amusischen Musikjournalisten vorschnell für mausetot erklärte Progressive Rock oder Art Rock inzwischen nicht nur, wie in den neunziger und nuller Jahren, mühsam am Leben erhalten, sondern ernsthaft weiterentwickelt und revitalisiert wird. Man verdankt diese schöne Überraschung Leuten wie den zappaesken FLOWER KINGS aus Schweden oder STEVEN WILSON oder eben dieser britischen Band. HAKEN kommen eigentlich vom Hardrock, und so fremd die entsprechenden Riff-Passagen beim ersten Hören vielleicht anmuten, so deutlich kann man bald hören, dass sie wesentlich origineller und auch weniger kühl und technizistisch als entsprechende Einsprengsel etwa bei MUSE klingen. Musikalischer Höhepunkt ist in dieser Hinsicht das zwölfminütige "Falling Back To Earth", bei welchem ein Hochgeschwindigkeitsriff zerlegt, neu zusammengefügt und variiert wird, mit Rhythmuswechseln, die abenteuerlich, aber nie verstiegen sind, was dann, wie durch Zauberhand, in einen sehr melodiösen Refrain überführt wird, bevor Part II ein fast schon markerschütterndes Seufzermotiv hervorbringt.

Schiere Bewunderung flössen dabei die Inbrunst und die Geschmackssicherheit ein, mit der die Gruppe HAKEN mittelalterliche Madrigals ("The Path") oder Renaissance ähnliche Melodien darbieten. Umwerfend frisch und zugleich an GENTLE GIANT erinnernd ist der mehrstimmige Abgesang auf die Küchenschabe als solche ("Cockroach King" - seit Keith Reid, dem Hausdichter von Procol Harum, hat man solche Songtexte, frei von jedwelchen Klischees kaum mehr vernehmen können), während sich die Texte ansonsten redlich am Mythos des Titanensohnes Atlas abarbeiten, der "das ganze Himmelsgewölbe und die Tiefe darunter" stemmen muss. Der Sänger Ross Jennings verfügt über eine unglaublich variable Stimme, und alle mehrstimmigen Gesangarrangements sind so, dass man bei mehrmaligem Hören immer neue Feinheiten entdeckt. Im "Cockroach King" gestattet sich die Band einen kurzen Ausflug in den traditonellen Jazz, und auch der gelingt so unangestrengt, dass man diesen sechs hervorragenden Musikern stilistisch durchaus alles zutrauen muss. Zumal auch die gelegentlichen Abstecher in Sphärenklänge Hand und Fuss haben, nie blosse Klangwolken sind.

Jenseits von allen Erörterungen, nur noch zum Hören und Geniessen bestimmt, sind die Hymnen "Because It's There" (nimmt das Thema von "The Path" erst A-Cappella und dann modern instrumentiert wieder auf) und "Somebody": Hier zaubert der Gitarrist Griffiths Arpeggien auf das Griffbrett der E-Gitarre, wie es STEVE HACKETT nicht schöner hätte spielen können, dessen Ende einen kraftvollen und beeindruckenden, absolut passenden Bläsersatz erhält. Beide Songs überzeugen durch ihre grosse emotionale Kraft und bieten Gänsehaut pur.

Wer die Entwicklung von Haken vom bemerkenswerten Demo-Tape über das sehr gute Album "Aquarius" bis zum fantastischen Werk "Visions" verfolgt hat, musste sich schon fragen: wie wollen diese hervorragenden Musiker das noch toppen ? Doch die Band HAKEN entpuppte sich als äusserst schlau und hatte sich gesagt: Wer es besser machen will, muss es anders machen. Und so findet man auf diesem wunderbaren Album im Vergleich zum homogenen "Visions" wesentlich mehr Brüche mit einer Vielzahl an neuen Ideen, Rhythmus-Vertracktheiten, Ethno-Einsprengsel, ausgefeilte Gesangsarrangements und vor allem einer Menge Reminiszenzen an GENTLE GIANT. Darin eingebettet dann die bewährten HAKEN-Zutaten, derer sie sich schon auf den vorherigen Werken genüsslich bedient haben: Anspruchsvolle Frickeleien, grosse Hymnen, interessante Jazz-Klänge und etwas zurückgenommen gegenüber den Voralben nachwievor auch Elemente des Prog-Metal. Bemerkenswert ist, wie die melancholische, teils depressive Grundstimmung von "Visions" einer wesentlich zuversichtlicheren und tröstlicheren gewichen ist, die von den ersten Takten an zu spüren ist. Das Bild vom erst unüberwindlich erscheinenden Berg (aus Mühen und Sorgen), der doch zu bezwingen ist, wird einem beim Hören immer wieder vor Augen geführt.

HAKEN sind mit diesem fantastischen Album endgültig bei den Künstlern angekommen, deren Werk eine eigene Liga darstellt, ein Versuch einer weiteren Kategorisierung und Unterbringung in den verschiedenen Progressive Rock-Schubladen ist damit genauso wenig sinnweisend wie ein Vergleich mit anderen Bands, insbesondere mit DREAM THEATER. Beim Anhören und Erleben der Musik von HAKEN kommt einem mal wieder der Gedanke, dass man sich auch als etwas älterer Progressive Rock Fan noch glücklich schätzen kann, immer wieder exzellente, intelligente und innovative Musik von jungen Musikern präsentiert zu erhalten, die ware kreative Oasen in der Wüste der heutigen populären Öd-Landschaft darstellen.

HAKEN gelingt auf dem Album "The Mountain" das Kunststück, die nachwievor kaum zu toppenden 70er Jahre Bands wie YES mit den 80er Helden vom Schlage etwa der Band FATES WARNING, den 90er Revitalisten DREAM THEATER oder SHADOW GALLERY, sowie den 00er Sounds etwa von PAIN OF SALVATION und den absolut modernsten Sounds zu kombinieren, ohne dabei als weiterer DREAM THEATER-Klon zu wirken. Natürlich: ein derart abgefahrenes Instrumentalteil wie beispielsweise im Stück "Pareidolia" findet sich auch auf diversen DREAM THEATER-Blaupausen, aber ein solch perfektes Gesangs-Highlight wie "Cockroach King" oder so ein kurzes Wunderwerk wie "As Death Embraces" haben die zitierten Dream Theater nie hingelegt.

Selten gab es so viele Stücke auf einem einzigen Album zu hören, die so viel Kunst atmen, ohne dass dadurch Struktur, Harmonie und Aussage verloren gehen, oder dass Kunst zum verliebten Selbstzweck, den niemand mehr versteht, verkommt. Es ist ein überwältigendes Stück modernen Kompositionsvermögens, hat immer noch stellenweise etwas mit Metal zu tun, was man etwa im Titel "Falling Back To Earth" nachhören kann, aber viele andere Metal-Passagen bleiben gar nicht hängen, weil die stilistische Vielfalt so immens gross ist und sich die gesamte Musik des Werks gar nicht mehr in Schablonen pressen lässt.

Soviel Kunst kann den Zuhörer manchmal etwas arg überfordern, denn Musik hat doch auch viel mit Harmonie zu tun. Auch diese kommt bei "The Mountain" nie zu kurz. Fantastische Harmonien, tolle Texte, sagenhaft betörende stimmliche Vorträge und Musik von allerbester Qualität. Ein begeisterndes Stück modernen Progressive Rocks.



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