Apr 18, 2017


VITESSE - Live In Germany (Philips Records 6624 062, 1982)

Vitesse waren eine der am meisten unterschätzten Rockbands aus den Niederlanden. Nicht nur verfügten sie in der Person des ehemaligen Cuby & The Blizzards-Musikers Herman Brood über einen der exzellentesten Keyboarder und Sänger aus Holland, sondern auch über den fabelhaften Schlagzeuger und Hauptkomponisten Herman van Boeyen, der später auch den Leadgesang vollständig übernahm. Van Boeyen war auch über all die Jahre die treibende Kraft hinter der Band. Die anderen Rollen innerhalb der Band wurden durch eine Vielzahl von Künstlern ausgefüllt, die im Laufe der Existenz der Gruppe mehrfach wechselten. Zu Anfang der 80er Jahre konnte die Band eine Reihe von Hit-Singles wie "Rosalyn", "Good Lookin" oder "Whole Lot Of Travellin'" verbuchen. Hatten sie ausserhalb der  Niederlanden fast gar keinen Bekanntheitsgrad, so wurden Vitesse in ihrer Heimat über all die Jahre sehr geschätzt. Vitesse existierten bis 1994.

Vitesse wurden 1975 in Amsterdam vom Schlagzeuger Herman van Boeyen, Herman Brood, Rob Zehn Bokum (Gitarre) und Peter Smid (Bass) gegründet. Alleine im ersten Jahr ihres Bestehens kamen und gingen mehrere Gitarristen. Noch im selben Jahr ergatterten Vitesse einen ersten Plattenvertrag mit Reprise Records und veröffentlichten ihr selbstbetiteltes Debütalbum. Die Band bestand zu dieser Zeit aus Herman van Boeyen, Herman Brood, Jan-Piet des Tex, Gerrit Veen und Ross Recardi. Herman Brood verliess die Band kurz darauf, um eine Solokarriere zu starten. Er wurde später weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt mit seiner Band The Wild Romance.

Nach dem Album "Rendez Vous" (Negram Records 1977) veröffentlichte die Band noch immer ausschliesslich in Holland, und ihre Alben spielten auf dem internationalen Markt kaum eine Rolle. Die LP "Out In The Country" (Negram Records 1978), mit den Gitarristen Jan van der Meij und Rudy Queljoe (ehemaliger Musiker bei der Gruppe Brainbox), sowie dem Bassisten Wilco Toerroe Leerdam, konnte trotz hervorragender Kritiken auch weiterhin nur in ihrer Heimat punkten. Das Album erhielt ausschliesslich positive Resonanz und wurde auch in Deutschland als Importplatte vertrieben. Das nächste Album"Rock Invader" (Negram Records 1979) schnitt da deutlich besser ab. Die Single "Rock & Roll Band", eine Komposition von Jan van der Meij, gelangte in die holländischen Charts, und das Stück "Whole Lot Of Travellin'" wurde nachgeschoben. In Deutschland war die Band danach immer erfolgreicher.

Nach dem Auseinanderfallen von Herman Brood's Wild Romance versuchte Herman van Boeyen, wieder mit Herman Brood zusammenzuarbeiten. Dies scheiterte jedoch, weshalb sich in der Folge erneut das Personalkarrussell drehte. Im Jahre 1980 veröffentlichten Vitesse ihr erstes Livealbum, schlicht betitelt "Live", das vom verbliebenen Triumvirat Herman von Boeyen Herman, Peter van Straten und Jan van der Meij eingespielt wurde. Danach zerfielen Vitesse und die beiden Musiker Van Straten und Meij gründeten die in Holland ebenfalls sehr erfolgreiche Rockgruppe Powerplay. Von Boeyen musste sich erneut nach neuen Mitmusikern umschauen und fand in der Folge eine weitere hervorragende Crew, mit welcher er seine beste Zeit erlebte. Mit von der Partie waren neu der phänomenale Gitarrist Carl Carlton, der später eine langanhaltende und beeindruckende Karriere hinlegen konnte, ausserdem der Keyboarder Otto Cooymans und der Bassist Rudy Englebert.

Mit dem Gitarristen Carl Carlton erhielt der Sound von Vitesse eine bemerkenswert rockigere Seite. Davon zeugte nicht zuletzt das im Jahre 1982 aufgenommene Konzertdokument "Live In Germany". Der Erfolg in Deutschland kam nicht von ungefähr: Gitarrist Carl Carlton, mit gebürtigem Namen Karl Walter Ahlerich Buskohl, geboren am 20. April 1955, stammte aus Ihrhove, Ostfriesland. Seine Zugehörigkeit öffnete der Band Vitesse viele Türen, zumal er mit 17 Jahren seine Heimat verliess und in die Niederlanden umzog, um dort an der lebendigen Rock- und Pop-Szene teilzunehmen. Er spielte in bekannten holländischen Bands wie Herman Brood & His Wild Romance, Long Tall Ernie & The Shakers und schliesslich bei Vitesse. Ab 1979 arbeitete er jedoch auch in den USA und erlangte vor allem an der Ostküste eine breite Bekanntheit, unter anderem als Gitarrist der Rockband Mink DeVille um den Sänger und Komponisten Willy DeVille.

In den 80er Jahren spielte Carlton bei Manfred Mann's Earthband und wurde in Deutschland vor allem als Gitarrist, Komponist und Produzent der beiden bekanntesten deutschen Rock-Musiker bekannt: Peter Maffay und Udo Lindenberg. Mit Lindenberg nahm er sechs Alben auf, mit Maffay dreizehn, von denen elf Platz 1 der Charts erreichten. Das musikalische Schaffen Carltons wurde Ende der 80er Jahre durch Kompositionen für Kino- und Fernsehfilme erweitert. Er war auch live und im Studio als Gitarrist für Joe Cocker, Keb’ Mo’, Jimmy Barnes, Eric Burdon, Mother’s Finest und viele weitere zu hören. Als Live-Gitarrist zog er bei Vitesse alle Trümpfe aus dem Aermel. "Live In GErmany" ist vor allem eine Carlton-Platte, obwohl auch Herman van Boeyen als singender Schlagzeuger eine hervorragende Leistung zeigte. Es finden sich auf diesem klasse Album jede Menge Highlights, allen voran das Robert Johnson-Stück "Steady Rollin' Man", das Vitesse in eine Blues- und Boogie-Jam von fast 20 Minuten ausdehnten. Hart, gradlinig und schnörkellos rockt sich die Band durch dieses Stück, von dem es wohl weltweit keine vergleichbar tolle Version gibt.

Daneben präsentierte die Band auf diesem als Doppelalbum veröffentlichten Werk ihre Single-Hits "Rosalyn" (als Opener), eine erweiterte Variante des Stücks "Whole Lot Of Travelin'" und als besondere Ueberraschung einen 'Doppler' aus den beiden zusammenhängenden Stücken "Kickin' On Love" und dem witzig gewählten Songtitel "Rummeniggekaltz" (zwei damals populäre deutsche Fussballspieler), das eigentlich nichts anderes war als ein langes und saugeiles Schlagzeug-Solo von Herman van Boeyen. Die Dynamik der Band war aussergewöhnlich, uind selbst heute, 35 Jahre nach dem Erscheinen dieser Platte, kann man nur darüber staunen, dass es dieses Top-Album nicht geschafft hat, der Band den entscheidenden Karriere-Kick zu verpassen. Es ist gut möglich, dass der Gitarrist Carl Carlton dann vielleicht länger in der Band verblieben wäre und der Band noch zu einigen weiteren Karrieresprüngen hätte verhelfen können. Leider stieg er aber danach aus der Band aus, und nachdem sich ein weiteres Studioalbum als wenig erfolgreich erwies, verliessen auch Cooymans und Englebert die Gruppe. 

Immerhin konnten Vitesse im Zuige ihrer breiter gewordenen Popularität, insbesondere in Deutschland und den Benelux-Ländern noch zwei moderate Hits landen: "Rosalyn" und "Good Lookin'", beide noch mit Carl Carlton eingespielt, verkauften sich sehr gut und wurden häufig im Radio gespielt. Die 1984 veröffentlichte LP "Vanity Islands" auf Vertigo Records floppte aber, und ein im Folgejahr noch nachgeschobenes weiteres Livealbum mit dem Titel "Keepin' Me Alive", auf dem die Band wesentlich mehr dem Zeitgeist folgte und viel Synthesizer-Klänge präsentierte, die nicht so ganz zum Klangbild der Band passten, auf EMI Records ebenso. Mit "Live In Germany" haben Vitesse aber eine Wahnsinsscheibe abgeliefert. Die Gruppe spielte zu der Zeit auch beim WDR Rockpalast.





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