Apr 4, 2017


ARTFUL DODGER - Babes On Broadway (Columbia Records PC 34846, 1977)

Eine der verlorensten Bands aus den 70er Jahren sind zweifellos die aus dem amerikanischen Fairfax, Virginia stammenden Artful Dodger, die sich im Herbst 1973 formierten und aus den beiden lokalen Bands BADGE und HOMESTEAD zusammensetzten. Artful Dodger gelten seit jeher als einer der am unbekannstesten gebliebenen sogenannten 'Major Acts' der 70er Jahre, also als eine der unterbewertetsten Bands, die bei einer grossen Plattenfirma unter Vertrag stand, für Columbia Records drei Alben veröffentlichte und mit keinem davon den Durchbruch schaffte, was angesichts der hohen musikalischen Qualität der Gruppe kaum nachvollziehbar ist. Die Gruppe schrammte knapp am Glam Rock vorbei, obwohl dieser Musikstil Ende 1973 so ziemlich angesagt war, jedoch eher in England, weniger in den USA, obwohl sich dort ebenfalls typische Glam Rock Bands etablieren konnten, wie beispielsweise Mott The Hoople, von deren Musik auch Artful Dodger einige stilistische Elemente in ihrer Musik aufwiesen. Hauptsächlich aber inspiriert durch den britischen Rock der Who und den Pop der Beatles gehörten Artful Dodger zur sogenannten ersten Generation des Power Pop, denen unter anderem auch die typischen Bands der Labels Bomp Records von Greg Shaw und Beserkley Records von Matthew King-Kaufman angehörten, wie etwa die heute ebenfalls längst vergessenen SHOES, 20/20, EARTHQUAKE oder THE RUBINOOS. Zudem führten Artful Dodger auch eher härtere Rockpop-Songs in ihrem Repertoire, welche sie öfters in die Nähe der frühen AEROSMITH oder die RASPBERRIES brachten. Mit KISS wiederum gingen Artful Dodger im Jahre 1976 auch als Support Act auf eine ausgedehnte Tournee, obwohl sich dies im Endeffekt nicht auszahlen sollte: Die Kiss-Fans mochten den eher poppigeren Sound von Artful Dodger nicht unbedingt, weshalb diese Tour auch nicht als das genutzt werden konnte, als was sie eigentlich gedacht war, nämlich als Promotions-Tour für ihr zweites Album "Honor Among Thieves", das kurz zuvor erschienen war und mit der Single "Remember" den einzigen einigermassen zählbaren Erfolg für die Band abwarf.

Artful Dodger besassen indes alles, was es zu einer erfolgreichen Bandkarriere gebraucht hatte: Tolle Musiker, brilliante Songs, eine der weltweit grössten Plattenfirmen und Schützenhilfe von prominenter Seite. Trotzdem fiel die Gruppe zwischen alle Stühle, konnte die hohen Erwartungen nicht erfüllen und stieg unaufhaltsam ab, bis sie auf dem Label Ariola/Arista noch ihren Schwanengesang "Rave On" veröffentlichte und sich danach trennte. Müssig zu erwähnen, dass selbst diese letzte Platte ihrer späten Phase noch immer um Längen besser war, als so manch andere Platte, die damals erschienen war. Doch kaum Promotion, kein zählbarer Charts-Erfolg und zuletzt auch keine grössere Tournee mehr nagten am Selbstbewusstsein der Band, was schliesslich zur Aufgabe führte. Die Zeichen hätten anfangs kaum besser stehen können: Vom Produzenten Jack Douglas unter die Fittiche genommen, der bereits erfolgreich mit Aerosmith, deren quasi sechstes Bandmitglied er war, den New York Dolls, John Lennon, Cheap Trick und The Who zusammengearbeitet hatte, und mit einem starken Management im Rücken (Leber & Krebs Management), das seinerseits Aerosmith, die New York Dolls und Ted Nugent unter Vertrag hatte, startete die Band voller Hoffnung. Auch zu den Aufnahmen zu ihren drei auf Columbia Records erschienenen Alben wählte Produzent Jack Douglas die erste Adresse in New York: die legendären Record Plant Studios. Hier spielte die Band alle ihre Songs ein, die ab Mitte 1975 bis Mitte 1977 auf ihren drei Platten zu hören sein würden.  Bis dahin hatten die Musiker von Artful Dodger schon fast eine Dekade lang Musik gemacht. In ihren frühen Teenagerjahren gründeten der Rhythmusgitarrist Steven Cooper und der Schlagzeuger Billy Paliselli die Gruppe BADGE, zusammen mit anderen damaligen Schulfreunden, inklusive männlicher und weiblicher Vokalisten.

Die weiteren späteren Artful Dodger-Musiker Steve Brigida (Schlagzeug), der Bassist Gary Cox und der Gitarrist Gary Herrewig spielten bei der Gruppe HOMESTEAD. Während sich die Gruppe BADGE vor allem am britischen 60's Sound der Beatles und der Rolling Stones, sowie an den amerikanischen Byrds und Creedence Clearwater Revival orientierte, erweiterte sich ihr stilistisches Gesamtprogramm um Songs von Jefferson Airplane, Janis Joplin und Shocking Blue, was dem Umstand geschuldet war, dass in der Band auch weiblicher Gesang vorhanden war. HOMESTEAD teilte die Vorliebe für den britischen Sound der Beatles und der Rolling Stones, spielten aber etwas härter als Badge und orientierten sich auch am bluesigen Rock etwa der Faces und Rod Stewart, und ihr Leadsänger Mike Fenech sang durchaus auf dem Niveau von Rod Stewart. Dass aus diesen beiden Bands schliesslich die Gruppe Artful Dodger entstand, war dem Umstand geschuldet, dass beide Bands in denselben Venues spielten, weil sie aus derselben Gegend kamen und auch stilistisch ziemlich verwandt waren. Es entstanden Freundschaften der Musiker untereinander, sie wurden Fans von einander, unterstützen sich gegenseitig durch Kontakte für Auftrittsmöglichkeiten und beschlossen eines Tages, ihre beiden Bands aufzulösen, um die gewichtigsten Synergien beider Acts für eine gemeinsame Gruppe zu nutzen. Das war die Geburtsstunde von Artful Dodger.


Unter dem neuen Bandnamen Artful Dodger begann die Band nun, eigene Songs zu schreiben, und darunter befanden sich bereits Titel, die später fest im Repertoire der Gruppe Einzug hielten, die sowohl an Konzerten gespielt, als auch auf Platte aufgenommen wurden. In dieser frühen Phase der Band, als sie quasi Tag und Nacht zusammen war und auch bereits die Clubs und Kneipen unsicher machte, traf sie auf Jim Ailant, ihren späteren Roadmanager, der sie kurze Zeit später dazu motivierte, eine Single aufzunehmen, damit man Verantstaltern gegenüber eine musikalische Visitenkarte präsentieren konnte. Diese Single erschien in einer Auflage von lediglich einer Handvoll, und die bestand aus den beiden Titeln "School Jive" und "I Need You". Veröffentlicht wurde die Single auf dem bandeigenen Phantasielabel Odyssey Records. Keine 100 Exemplare davon wurden unter die Leute gebracht, vornehmlich gingen sie als Promo-Single an die lokalen Veranstalter, und einige verkaufte die Band auch an ihren Auftritten. Mit der Zeit wuchs das Interesse an der Band, und eines Tages wurde der ehemalige Jimi Hendrix-Manager Michael Jeffery auf Artful Dodger aufmerksam. Er finanzierte einige Demoaufnahmen der Band, welche diese im legendären Electric Ladyland Studio aufnehmen konnte, jenem Studio, das Jimi Hendrix 1970 von einem Jam-Schuppen in ein professionelles Tonstudio umbaute und die Grössten der damaligen Rockszene zu Aufnahmesessions einlud. Kurze Zeit, nachdem diese Demoaufnahmen beendet waren, verstarb Michael Jeffery bei einem Flugzeugabsturz, was dem Sänger Mike Fenech das Herz brach. Er stieg darauf aus der Band aus und widmete sich seiner Familie, nahm wieder einen bürgerlichen Beruf auf und verabschiedete sich vom aktiven Musikschaffen. Schlagzeuger Steve Brigida meinte dazu später ironisch: "That's when we started looking for another lead singer, because we were too stupid to quit".

Man kann dazu nur sagen, gottseidank waren sie zu blöde, um sich zu trennen, denn nun übernahm Billy Paliselli den Posten am Mikrophon, nachdem dieser als singender Schlagzeuger schon bei der Formation BADGE zuvor einen Teil des Leadgesangs beigesteuert hatte. Ueberhaupt war Billy Paliselli sehr vielseitig begabt, er spielte eine ganze Reihe verschiedener Instrumente und verfügte in der Tat auch über eine hervorragende Stimme. Mit der neuen Rolle des Frontsängers bei Artful Dodger konnte er sich ganz dem Gesang widmen, und bewies darin grossartige Fähigkeiten. Nach einigen weiteren Demoaufnahmen, auf welchen nunmehr Paliselli den Hauptgesang übernahm, wurde das Leber & Krebs Management, und da insbesondere der Mitinhaber David Krebs auf die Gruppe aufmerksam, und ganz besonders auf deren Leadsänger, sodass er sich später, als es um einen Plattenvertrag mit Columbia Records ging, nicht sicher war, ob er die Band oder doch nur den Sänger zu einem Vertrag anbieten sollte. Nach einer mehrmonatigen Auszeit, in welcher sich die Band in ihre Heimatstadt Fairfax zurückgezogen hatte, um Songs für ihr erstes Album zu schreiben, kehrte sie Mitte 1975 zurück nach New York, wo sie in den Record Plant Studios unter der Leitung des Produzenten Jack Douglas die Titel für das Werk "Artful Dodger" einspielte, das noch im selben Jahr erschien.


Artful Dodger's Debutalbum, im September 1975 veröffentlicht, wurde sogleich promotet und die Band spielte viele Konzerte, jedoch die meisten davon als Opener für wesentlich berühmtere Acts, wie beispielsweise die James Cotton Band. Das war stilistisch genauso unpassend und unglücklich gewählt, wie nachfolgende Konzerte als Vorgruppe für Lynyrd Skynyrd, REO Speedwagon und die Kinks. Einzig die Konzerte, welche Artful Dodger gemeinsam mit Eric Carmen bestreiten konnten, waren einigermassen erfolgreich. Das erstaunt eigentlich nicht weiter, da Eric Carmen kurz zuvor noch mit seiner Band The Raspberries erfolgreich war, die stilistisch ziemlich genau Artful Dodger entsprachen, und auch Eric Carmen's Solo-Liveprogramm passte zum Power Pop-Repertoire von Artful Dodger. Als am schlimmsten erwiesen sich ihre Konzerte, die sie gemeinsam mit Iron Butterfly und Blue Oyster Cult, sowie mit Rush und Ted Nugent bestritten. An diesen Konzerten wurden sie in der Regel ausgepfiffen, konnten kaum richtig spielen, wurden mit Bechern, Flaschen und anderem beworfen und überlegten sich deshalb öfters einmal, mitten in der Show einfach abzubrechen, was sie dann allerdings doch nicht taten. Schon kurze Zeit später verflüchtigte sich innerhalb der Gruppe auch das Vertrauen in ihre Plattenfirma, welche die Band wohl einfach falsch eingeschätzt hatte und die nötige Unterstützung vermissen liess. Der neue, für die Gruppe zuständige Manager von Columbia Records, John Kostic,  verschaffte der Band immerhin eine Reihe von Auftritten in und um Detroit und Cleveland, und dort konnte sich die Band eine grössere und treue Fanbase erarbeiten.

Als Artful Dodger ein knappes Jahr später ihr zweites Album "Honor Among Thieves" veröffentlicht hatten, konnte die Band immerhin mit wesentlich passenderen Actsgemeinsame Auftritte bestreiten. Mit Aerosmith freundete sich die Band dabei besonders gut an, auch ihre Auftritte mit Kiss sollten die Popularität von Artful Dodger steigern. Das Gegenteil war jedoch der Fall: Die Kiss-Fans mochten den zu poppigen Sound von Artful Dodger nicht und die gemeinsame Tour geriet für Paliselli und seine Mitmusiker zum finanziellen Desaster, zumal auch Columbia Records langsam Druck machte. Man hatte schliesslich ziemlich viel Geld in die Band investiert bisher. Dies führte letztlich dazu, dass sich die Gruppe nur widerwillig an die Aufnahmen zu ihrem dritten und letzten Columbia-Album machte: "Babes On Broadway" entstand unter dem schicksalshaften Motto "do or die". Für Artful Dodger's Schwanengesang wurden einige hochkarätige Gastmusiker verpflichtet. Man darf allerdings darüber spekulieren, ob es diese Gastbeiträge überhaupt gebraucht hätte, oder ob diese illustren Musiker lediglich dazu dienten, etwas Klitzekleines zu den Aufnahmen beizutragen, damit man mit ihren Namen später Werbung machen und entsprechend Gewinne einfahren konnte.

Auf "Babes On Broadway", einem Album, das insgesamt wesentlich näher am typisch amerikanischen Power Pop als am britisch gefärbten Rock'n'Roll war, und das deutlich kommerzieller klang als zuvor noch die beiden ersten Alben, spielte unter anderem der Aerosmith-Sänger Steven Tyler mit. Lediglich für einen einzigen Song wurde er dazu verpflichtet, beim Stück "Alright" eine der Chorstimmen mitzusingen - ein Job von 10 Minuten für einen Profi, wohl sicherlich gut bezahlt. Der Saxophonist Michael Brecker (der Brecker Brothers) brachte es immerhin auf Sax-Einlagen in zwei Songs, nämlich dem klasse Opener "Can't Stop Pretending" und der Nummer "Loretta". Derek St. Holmes, der damalige Gitarrist in Ted Nugent's Band steuerte ebenfalls auf einem Songs einige Solo-Gitarrenläufe bei ("Idi Amin Stomp") und sang Backing Vocals bei "C'mon Everybody", einem Re-Make des 50er Jahre Rock'n'Roll-Klassikers von Eddie Cochran. Stilistisch servierte "Babes On Broadway" eine perfekte Mixtur aus purer Westcoast-Fröhlichkeit, kombiniert mit druckvollem Power Pop, der auch aufnahmetechnisch zu begeistern wusste. Ob typische Jeff Lynne-Reminiszenzen in "Wave Bye-Bye" oder lockeres Laidback-Feeling in Bee Gees-Manier ("Who In The World") oder auch druckvoller Vorwärts-Rock im Opener "Can't Stop Pretending": Das Album war anders als die beiden Vorgänger, wirkte in sich aber homogener und geschlossener. Das Album wurde von Eddie Leonetti produziert, die Co-Produktion übernahm noch einmal Jack Douglas.

Das Album geriet zum Flop, weil es weder gross promotet, noch durch grössere Konzertauftritte bekannt gemacht wurde. Der Sänger und Gitarrist Gary Cox ging schon kurz nach der Veröffentlichung von "Babes On Broadway" erneut ins Tonstudio und machte Solo-Demoaufnahmen unter anderem mit Musikern von Phoebe Snow's und Billy Joel's Bands, welche jedoch ebenfalls kein Interesse fanden, weder bei Columbia Records, noch bei einer anderen Plattenfirma. Ein Bruch zwischen Jack Douglas und Aerosmith führte 1977 dazu, dass das Management Leber & Krebs auch alle anderen Acts auf Columbia Records verlor. Artful Dodger gerieten dadurch mit vielen weiteren Bands aus diesem Management zum Kanonenfutter. Die meisten lösten sich in der Folge auf. Gary Cox kam nach seinem missglückten Soloversuch wieder zurück und motivierte die Band 1980 noch einmal zu neuen Plattenaufnahmen, welche dann auch veröffentlicht wurden: Das vierte Album "Rave On", wiederum ein ganz tolles Stück Power Pop Musik ereilte indes das selbe Schicksal wie schon die drei Platten der Band zuvor: Es ging sang- und klanglos unter.






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