Apr 16, 2017


CHICK COREA - The Vigil (Concord Jazz Records CJA-34762-01, 2013)

Als eine Art musikalisches Chamäleon hatte der in Paris lebende amerikanische Jazzjournalist und Musiker Mike Zwerin Chick Corea einmal beschrieben: Als Bandleader und Solist hatte Corea zwischen elektrischen und akustischen Bands, akustischen und elektrischen Keyboards, improvisierten Solokonzerten und Post Bop-, Latin-, Elektro-, Pop- und Funk-Stilen hin- und hergewechselt. Er hatte auch Kinderlieder geschrieben und aufgenommen sowie Recitals klassischer Musik aufgeführt und eingespielt. Tatsächlich war Chick Corea von all den grossartigen Jazzpianisten, die in den 60er und 70er Jahren zu Weltruhm aufstiegen, schon früh der Vielseitigste gewesen. Auch wenn er zu manchen Experimenten, wie Miles Davis in seiner Autobiographie berichtete, erst überredet werden musste. Als Miles Davis den Musiker Chick Corea im Jahre 1968 in seine Band holte, um Herbie Hancock zu ersetzen, war der Pianist nämlich erst einmal gar nicht glücklich mit seiner Rolle. Zu Anfang war Chick Corea sich nicht sicher, ob er das Fender überhaupt mochte, aber Davis brachte ihn dazu. Es passte Corea zunächst gar nicht, dass Davis ihm sein Instrument vorschrieb, bis er es schliesslich perfekt beherrschte. Danach liebte er es fast und machte sich sogar einen Namen damit. Wie zahlreichen anderen Musikern auch, diente Chick Corea die zeitweilige Zugehörigkeit zur Band von Miles Davis als das grosse Karrieresprungbrett.

Am 12. Juni 1942 als Armando Anthony Corea in Chelsea, Massachussetts geboren, erhielt Chick schon als Vierjähriger Klavierunterricht und wurde von klein auf zum musikalischen Eklektizismus erzogen. Bereits im Kindesalter setzte er sich nicht nur mit der klassischen Musik von Beethoven und Mozart auseinander, sondern auch mit Swing, Bebop und Hard-Bop. Als grosse Vorbilder dienten ihm, wie auch anderen Pianisten seiner Generation, zuerst Bud Powell und Horace Silver, später vor allem Bill Evans und McCoy Tyner. Mit 23 Jahren nahm Corea als Begleiter des Trompeters Blue Mitchell seine ersten eigenen Kompositionen auf. Oft spielte er in den frühen 60er Jahren auch mit Latin Jazz-Größen wie Cal Tjader, Herbie Mann, Mongo Santamaria und Willie Bobo zusammen und entwickelte so recht früh sein Faible für lateinamerikanische Rhythmen. Sein erstes Album unter eigenem Namen, "Tones For Joan's Bones", erschien 1966 und verblüffte damals die Jazzwelt. So wie das 1968 erschienene Trio-Album "Now He Sings, Now He Sobs" galt es schon bald als ein absoluter Klassiker des Jazz. 1968 holte ihn dann wie bereits erwähnt Miles Davis als Ersatz für Herbie Hancock in seine Band und nahm mit ihm im Laufe von drei Jahren so epochale Alben wie "Filles De Kilimanjaro", "In A Silent Way", "Bitches Brew" und "Miles Davis At The Fillmore" auf. Nach dem Ausstieg bei Miles Davis bildete der Pianist etwas überraschend mit Anthony Braxton, Dave Holland und Barry Altschul ein Ensemble namens Circle, das sich ganz der freien Improvisation verschrieb und ein Live-Album mit dem Titel "Paris Concert" für das noch blutjunge Label ECM Records aufnahm. Unter der Ägide des ECM-Produzenten entstanden in den frühen 70er Jahren noch weitere wegweisende Aufnahmen des Pianisten: darunter zwei Alben mit "Piano Improvisations", das Album "Return To Forever", das die Geburtstunde der gleichnamigen All Star Fusion-Band dokumentierte, und die erste Duett-Einspielung mit Gary Burton, "Crystal Silence", der in den Jahrzehnten danach noch einige Alben folgen sollten. 2012 feierten die beiden ihr 40-jähriges Jubiläum mit einem Album namens "Hot House" und einer ausgedehnten Welttournee. 

Mit der Ursprungsbesetzung von Return To Forever, mit dem Saxophonisten und Flötisten Joe Farrell, dem Bassisten Stanley Clarke, dem Perkussionisten Airto Moreira und der Sängerin Flora Purim, spielte Corea auf "Return To Forever" und "Light As A Feather" noch von brasilianischer Rhythmik geprägten luftigen Latin-Jazz. Dann mauserte sich das Ensemble, das seit der zweiten Platte bei Polydor Records unter Vertrag stand, nach einer Umbesetzung zu einer der massgeblichen Fusion-Bands neben Joe Zawinul und Wayne Shorter's Weather Report, Herbie Hancock's Headhunters, John McLaughlin's Mahavishnu Orchestra und Tony Williams' Lifetime. Nachdem er die Gruppe Return To Forever im Jahre 1975 aufgelöst hatte, präsentierte sich Chick Corea auf seinen Alben in munterem Wechsel mit immer wieder neuen, mal akustischen, mal elektrischen Ensembles, als Piano-Solist oder mit Duo-Partnern wie Herbie Hancock, Béla Fleck ("The Enchantment", 2007) oder Hiromi Uehara ("Duet", 2009) und Stefano Bollani ("Orvieto", 2011). Mit Bassist Eddie Gomez und Schlagzeuger Paul Motian, zwei prominenten ehemaligen Sidemen des grossen Bill Evans, spielte der schier unermüdliche Corea die Evans-Hommage "Further Explorations" (2012) ein.

Gelegentlich knüpfte der Pianist bei seinen Projekten auch an alte Arbeiten an. Etwa in den frühen 80ern, als er für zwei vielbejubelte ECM-Einspielungen ("Trio Music" und "Trio Music Live") sein legendäres Trio mit Miroslav Vitous und Roy Haynes wiederauferstehen liess. An seine spanischen Wurzeln, die er erstmals 1976 auf dem Doppelalbum "My Spanish Heart" so richtig offenbart hatte, erinnerte er 2006 noch einmal mit "The Ultimate Adventure" und der DVD "Live In Barcelona". Eine Reunion mit Originalmitglieder von Return To Forever feierte er auf "Return To Forever Returns" (2009) und dem Doppelalbum "Forever" (2011). In die aufwühlende Zeit der Fusionjahre tauchte er 2009 erneut gemeinsam mit John McLaughlin und den anderen Stars der Five Peace Band ein ("Five Peace Band Live"). Für die Deutsche Grammophone nahm er zudem ein neues Werk auf, auf dem er wieder einmal zwischen Jazz und Klassik pendelte: "The Continents: Concerto for Jazz Quintet & Chamber Orchestra" (2012). 

Auch mit seinem alten Duo-Partner Gary Burton teilte er immer wieder Bühne und Studio: 2008 nahmen die beiden zusammen "The New Crystal Silence" auf, für welches das Duo zum vierten Mal mit einem Grammy ausgezeichnet wurde und 2012, zum 40-jährigen Jubliäum ihrer Partnerschaft, das Album "Hot House", auf dem sie erstmals fast ausschliesslich Fremdkompositionen interpretierten. Ein wunderbares Dokument seiner Vielseitigkeit legte Chick Corea anlässlich seines 60. Geburtstags auch mit der Doppel-Liveplatte und DVD "Rendezvous In New York" vor. Ein stilistisches Chamäleon ist Chick Corea bis heute geblieben. Und wie guter Wein ist der Pianist über die Jahre weitergereift und immer besser geworden. Ein Beleg dafür: seit dem Beginn des neuen Millenniums heimste er zehn seiner insgesamt achtzehn Grammys und zwei Latin-Grammys ein.

Die stetige Veränderung hält indes jung. Anders war es kaum zu erklären, dass Chick Corea mit seinen inzwischen 72 Jahren sehr viel jünger wirkte und auch aussah, als er tatsächlich schon war. Und nicht nur optisch, sondern auch musikalisch wirkte der Pianist, Keyboarder und Komponist nachwievor, als ob er in einen Jungbrunnen gesprungen sei. Seit er 1968 mit Bassist Miroslav Vitous und Schlagzeuger Roy Haynes unter dem Titel "Now He Sings, Now He Sobs" eines der einflussreichsten Trio-Alben des Jazz einspielte, begeisterte Corea die Musikwelt mit immer anderen, wechselweise akustischen und elektrischen Ensembles. 2013 stellte er auf einem titellosen Album eine weitere neue Band namens The Vigil vor, die er überwiegend mit sehr viel jüngeren Musikern besetzt hatte. Einer dieser Musiker, der Schlagzeuger Marcus Gilmore, war der Enkel von Corea's ehemaligem Trio-Partner Haynes. Obwohl er zum Zeitpunkt der Aufnahmen zum gleichnamigen Album erst 25 Jahre alt war, hatte Marcus Gilmore bereits Aufnahmen mit unter anderem Christian Scott, dem Vijay Iyer Trio, Steve Coleman's Five Elements und Gonzalo Rubalcaba hinter sich und bewies darauf sein riesiges Talent. Gemeinsam mit dem phänomenalen französischen Bassisten Hadrien Feraud (John McLaughlin & Biréli Lagrène) und dem Gitarristen Charles Altura (Stanley Clarke Band & Tigran Hamasyan) bildete Chick Corea in der Band The Vigil eine ungemein agile, stilistisch extrem flexible Rhythmusgruppe. Komplettiert wurde das Line-Up durch den britischen Saxophonisten Tim Garland, der seit 2000 schon an mehreren Corea-Projekten beteiligt war, aber nebenher auch mit den Brand New Heavies und Duran Duran im Studio arbeitete.

Verstärkung erhielt die Band ausserdem durch zwei Stargäste: Chick Corea's alten Return To Forever-Gefährten Stanley Clarke und den Saxophonisten Ravi Coltrane. Für ihr Debütalbum spielten The Vigil einen akustisch-elektrischen Mix aus Corea-Klassikern und neuen Originalen ein. Und weckte dabei gelegentlich Erinnerungen an Return To Forever. Dies tat im übrigen auch das Cover des neuen Albums, das dem des Return To Forever-Klassikers "Romantic Warrior" von 1976 nachempfunden war. Über den Geschmack des Coverbildes konnte man durchaus streiten. Die Musik von The Vigil aber konnte alte wie neue Chick Corea-Fans restlos begeistern. Musiker von Weltklasse-Format zeigten hier eindrücklich ein Beispiel ihres Könnens. Das 16 Minuten lange "Portals To Forever" war ein Beispiel dieses enormen Könnens. Ausserdem beeindruckte das nochmals knapp zwei Minuten längere "Pledge For Peace" mit Stanley Clarke am Bass und dem grossartigen Ravi Coltrane am Saxophon. Der Opener "Galaxy 32 Star 4" kam in bester Return To Forever Fusion-Tradition daher, mit einem tollen Solo des jungen Gitarristen Charles Altura mit sehr ungewöhnlichen Harmonien und Läufen. Sehr schön geriet auch "Planet Chia", wunderbar leicht und akustisch, mit leichtem Spanish-, respektive Latin-Einschlag, wobei das echt schwer war, hier etwas hervorzuheben, ohne alle anderen durchweg hervorragenden Stücke schlecht machen zu wollen; nennen wir es persönlichen Geschmack. Beide Werke zeigten jeweils lange Unisono-Passagen zum Schluss, fast schon klassisch durchkomponiert.

"Portals to Forever" war von Aufbau und der Komposition her der Hammer: Mit komplex verschachteltem Fusion-Rhythmus recht elektrisch beginnend, ging es weiter mit ständig wechselnden Soli, Thema, wieder Soli, den schon bekannten Unisono-Melodien, zwischendrin mal entspanntem 4/4-Jazz mit Piano-Solo, an dessen Ende wieder alle gemeinsam spielten, und am Schluss noch einmal ein komplett neuer Part, fast schon ein eigenes Stück, in Form eines traumhaft stimmungsvollen Outros der gesamten Band, das langsam ins Nichts entgleiten durfte. Das wieder mehr akustisch und majestätisch leichte "Royalty", "Outside of Space" mit Corea's Frau Gayle Moran als Sängerin, die John-Coltrane Gedächtnis-Improvisation "Pledge for Peace" mit Stanley Clarke am akustischen Bass statt "Wunderkind" Hadrien Feraud am elektrischen und Ravi Coltrane statt Tim Garland am Sax (letzterer spielte übrigens auf allen anderen Stücken mit einem fantastisch klaren, hellen, fast schon perlenden Ton), das rassig-dreckige Jazz-Rock geprägte und doch tief jazzige "Legacy" mit einem hier fast noch breiter ausgebreiteten Rhythmus-Teppich als auf dem Rest der Platte des Schlagzeugers Marcus Gilmore, sowie schliesslich das federleichte Latin Jazz-Stück "Hot House": Es gab aufdiesem Album wahrlich keinen einzigen musikalischen Ausrutscher zu hören. Dass Chick Corea auch in seinem hohen Alter noch solch kreative Höhenflüge präsentierte wie "The Vigil", machte deutlich, was für ein wichtiger Musiker er immer gewesen ist. Die konstant hohe Qualität seiner Einspielungen dauerte kontinuierlich an, auch, weil er immer wieder neue Wege beschritt und sich dabei auch immer von seinen Gefühlen leiten liess, die keinerlei stilistischen Schranken unterlagen.







No comments:

Post a Comment