PEARL JAM - Binaural (Epic Records EK 63665, 2000)
Viel war letztlich nicht mehr gelieben. Nirvana waren schon im Jahre 1994 mit dem Tod Kurt Cobains in die Geschichte eingegangen, die brillianten und hoffnungslos unterschätzten Soundgarden hatten sich aufgelöst, Mudhoney, Alice In Chains, die Melvins und all die anderen, die nie den wirklichen Durchbruch schafften, schwammen noch einige Jahre unter der Oberfläche oder waren ebenfalls ganz verschwunden. Von jener Szene, die Anfang der 90er Jahre unter dem Namen Grunge die letzte Jugendrevolution hervorbrachte, war also nur Pearl Jam, die Band, die nie so richtig ins Bild der wütenden Ankläger der Gesellschaft passte, noch da und vor allem auch erfolgreich. Ihre politisch ambitionierten Songtexte transportierten nicht die Wut und die innere Zerrissenheit, die ein Kurt Cobain so sehr zur Identifikationsfigur gemacht hatte. Die Härte der eher metalorientierten Soundgarden blieb Ihnen ebenfalls fremd. Ihre Melodiösität drängte sie an den kommerziellen Rand der Szene und trotzdem oder gerade deshalb war bereits ihr Debütalbum "Ten" ein gewaltiger Verkaufserfolg und dürfte auch im nachhinein betrachtet neben Nirvanas "Nevermind" das wichtigste Album dieser Zeit geblieben sein.
Wegen des überschäumenden Hypes um Seattle, der schliesslich im Selbstmord Cobains gipfelte, zog sich jene Band, die mit dem Vorwurf des kommerziellen Plagitats gestartet war, nach und nach in den Untergrund zurück. Pearl Jam gaben jahrelang keine Interviews, veröffentlichten keine Videos oder spielten sich sonstwie ins grelle Licht der Öffentlichkeit. Über die Band war schlicht nur das zu erfahren, was ihre Musik transportierte. Die Alben wurden schwieriger und komplizierter, erreichten aber dadurch eine viel dichtere Konsistenz. Seit dem Studioalbum "Yield" hatte die Band begonnen, sich allmählich wieder mehr zu öffnen und hatte mit "Last kiss" prompt einen respektablen Single-Hit. Doch wie wirkte sich die neue Offenheit auf ihren Sound aus ? Der Titel des Albums versprach 'Musik für beide Ohren', was "Binaural" sinngemäss in etwa bedeutete.
Man sollte also im Grunde genau hinhören und jeden Ton in sich aufzusaugen, denn einfach machten es Pearl Jam einem wie immer nicht. Bereits das Cover, das typisch für Pearl Jam eben etwas aufwendiger als bei einer gewöhnlichen Band daherkam, machte jedoch bereits Lust auf mehr. Die von der NASA erstellte optische Reflexion eines implodierenden Sterns, 8000 Lichtjahre von der Erde entfernt, erinnerte an eine Sanduhr oder an zwei ineinander geflochtene Ringe. Das geheimnisvolle farbenprächtige Schillern stellte eine wunderbare Assoziation zum Wirken der Band dar. Pearl Jam schienen inzwischen in ganz anderen Dimensionen, weit weg vom Irdischen und Fassbaren, zu denken und zu handeln. Das gigantische Artwork, das viel Raum für Assoziationen bot, zog sich durch das gesamte Artwork der Platte und fand durch zwei weitere mystische Nebula-Aufnahmen, von denen eine auf dem Bookletcover die Entstehung eines neuen Sterns dokumentierte, seinen Höhepunkt. Hinzu kam ein aufwendiges Songbook, wie es die Gruppe bereits beim Album "No Code" präsentiert hatte und schliesslich die schlicht in schwarz gehaltene CD.
Die insgesamt 13 Songs des Albums stellten sicherlich keine Neuerfindung des Bandstils, jedoch eine weitere Ergänzung und Perfektionierung dar. Langweilig wurde ein Album von Pearl Jam ohnehin nie, aber auf "Binaural" wurde eine besonders ausgewogene Mischung aus eher straighten Uptempo-Nummern und folkigen Balladen gefunden. Über die Virtuosität, mit der Stone Gossard, Mike McCready und Jeff Ament ihre Instrumente bedienten, die alles durchdringende Stimme Eddie Vedders und das ausgereifte Songwriting der Band musste kein Wort mehr verloren werden. Hinzu gesellte sich noch der Ex-Soundgarden Musiker Matt Cameron, der bereits die brilliante Band Temple Of The Dog, jenem Sideprojekt zu Ehren des verstorbenen Andrew Wood von Mother Love Bone, angehörte, aus dem schliesslich die Band Pearl Jam hervorging. Cameron, bereits der fünfte Schlagzeuger in der Bandgeschichte, fügte sich durch sein treibendes Spiel nahtlos in den Gesamtsound ein.
Die vorab als Single ausgekoppelte Nummer "Nothing As It Seems", die mit einem klagenden Gitarrensolo startete, frass sich in ergreifender Schlichtheit direkt in die Gehörgänge. Text und Musik stammten bei diesem Song komplett vom Bassisten Jeff Ament. Dass Pearl Jam aber auch immer noch sehr gut rocken konnten, bewiesen bereits der Opener "Breakerfall" und das zweite Stück "Gods' Dice", welche beide durch ihre Kompaktheit und das aggressive Gitarrenspiel bestachen und wohl viele Gelegenheitshörer eher abschreckten. Im Mittelteil des Albums wurden dann eher ruhigere Töne angeschlagen: "Light Years" und "Thin Air" waren hier mit ihren eher fragilen, aber wunderschönen Rhythmen die herausragenden Vertreter. Mit "Sleight Of Hand", einem grossen, rebellischen Song gegen das blinde Gehorchen, glänzten Pearl Jam sogar in alter "Ten"-Manier. Es folgte die kurze und zerbrechliche Gitarrenballade "Soon Forget", die bereits mit dem einleitenden "Sorry is the fool who trades his soul for a corvette. Thinks he'll get the girl, he'll only get the mechanic" klar machte, dass Pearl Jam lange nicht so müde waren, wie oft angenommen wurde. Abgeschlossen wurde das Album dann mit dem todtraurigen Abschiedssong "Parting Ways", in dem es hiess: "And though he's too big a man to say. There's a fear they'll soon be parting ways".
Sicher enthielt dieses Werk nicht das neue "Alive", auf das einige sicherlich seit Jahren gewartet hatten. Auf echte Hymnen wurde auch auf "Binaural" gänzlich verzichtet. Die Stücke gerieten vielschichtiger, waren nicht mehr so einfach zu greifen, und selbst im Vergleich mit dem direkten Vorgänger "Yield" hatten Pearl Jam sich wieder um mehr Distanz zu den Hörgewohnheiten der Masse bemüht. Dies tat der Faszination jedoch keinen Abbruch. Textlich versuchte die Band sich ein bisschen vom Ruf des 'Guten Gewissens Amerikas' zu lösen. Eddie Vedder verfuhr nicht mehr ganz so anklagend und besang auch schon mal Gefühle und Empfindungen, anstatt jedem Song krampfhaft tiefgreifende Inhalte aufdrücken zu wollen. Pearl Jam mussten sich keine Anerkennung mehr verdienen. Entweder man respektierte sie und ihre Musik so wie sie war oder man hakte sie halt als zu schwer greifbar ab und betrachtete sie als längst verblichene Helden der Vergangenheit. Wer jedoch bereit war, sich das Album mit Verstand und Aufmerksamkeit anzuhören, der merkte sogleich, dass Pearl Jam immer noch die Faszination und das Feuer in sich trugen, das damals den Weltenbrand mitauslöste und die Hoffnung auf das Gute im Menschen wach hielt.
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