Nov 30, 2017


HENRY COW - Concerts (Caroline Records CAD 3002, 1976)

Als Teil der sogenannten Canterbury-Szene wurde die Gruppe Henry Cow im Jahre 1968 von Fred Frith und Tim Hodgkinson in Cambridge gegründet. Der Bandname wurde verschiedentlich auf den Avantgarde-Komponisten Henry Cowell zurückgeführt, die Bandmitglieder hatten dies aber stets bestritten. Nach einigen Umbesetzungen stabilisierten Schlagzeuger Chris Cutler und Bassist John Greaves die Band. An die Stelle des Saxophonisten Geoff Leigh trat 1974 Lindsay Cooper, die neben Fagott auch weitere Blasinstrumente spielte. Im Jahre 1973 unterschrieben Henry Cow einen Plattenvertrag bei dem damals neuen und unabhängigen Label Virgin Records. Diese Zusammenarbeit entsprach den Wünschen der Musiker nach vollständiger Kontrolle über ihre Platten und schien mit dem Debütalbum "Legend" (auch "Leg End") zunächst auch kommerziell zufriedenstellend. Während die Experimentierfreudigkeit der Gruppe zunehmend deutlicher wurde, erlahmte das Interesse des britischen Publikums, Auftritte wurden seltener und von der Band wieder selbst organisiert.

Erfolgreich waren sie weiterhin in Kontinentaleuropa. 1974 und 1975 erschienen zwei Platten, die gemeinsam mit dem Trio Slapp Happy aufgenommen wurden: "Desperate Straights" und "In Praise Of Learning". 1975 stiess deren deutsche Sängerin Dagmar Krause zu Henry Cow. Nach dem Erscheinen von "Concerts" wurde 1976 der Plattenvertrag mit Virgin gekündigt, da dieser aufgrund der vertraglich festgelegten Produktionskosten nur zur Verschuldung der Band führte. Die Band produzierte nun ihre Alben selbst und erreichte ökonomische Tragfähigkeit. Mit der Gründung der beiden Nachfolge-Gruppen Art Bears und Feminist Improvising Group wurde die Band aufgelöst. Die letzte Platte von Henry Cow, "Western Culture", wurde erst 1979 aufgenommen und veröffentlicht. Auf ihr spielten bereits mehrere Musikerinnen der Feminist Improvising Group mit (Irène Schweizer, Georgie Born und Annemarie Roelofs).

Das politisch ambitionierte Künstler-Kollektiv verabreichte seiner eingeschworenen Gefolgschaft atonale, spröde, schwer verdauliche Klang-Collagen, die mitunter recht bizarr wirkten. Die Gruppe benutzte ihre Musik nach eigener Einschätzung als radikales Mittel zur Veränderung des Konsumenten und verstanden sie folglich als antikommerzielle Ideologie, die ein neues Bewusstsein für Avantgarde-Musik schaffen sollte. Durch diesen Anspruch vermochte sich die Band  nie vom Insider-Status zu lösen und blieb für die kommerziell ausgerichtete Musik-Industrie völlig uninteressant.


Zum weiteren Umfeld von Henry Cow gehörten neben den Bands National Health, Hatfield & The North und Egg auch eine unübersichtliche Anzahl intellektueller Musiker, die die Besetzungslisten ständig veränderten. Henry Cow, insgesamt auch eine dezidiert politisch linksgerichtete, zeitweise als echtes Kollektiv organisierte Formation, liess vielgestaltige Einflüsse erkennen: Neben allgemeinen Charakterzügen des Progressive Rock nahm insbesondere die aus dem Jazz übernommene freie Improvisation eine zentrale Rolle ein. Andererseits wurden auch Avantgardisten der Neuen Musik rezipiert, etwa Olivier Messiaen, aber auch Kurt Weill. Die Musik von Henry Cow überschritt in diesem Amalgierungsprozess bewusst und typischerweise sehr spielerisch die Grenzen der Tonalität und reicherte die Songs dabei auch mit parodistischen Episoden an. Neben komplexen Taktarten spielten abmischungs- bzw. aufnahmetechnische Manipulationen und Soundverfremdungen eine nicht unerhebliche Rolle. Vor allem auf einige britische Bands hatten Henry Cow grossen Einfluss. Das Album "Concerts" wurde in die Liste von The Wire’s '100 Records That Set the World on Fire (While No One Was Listening)' aufgenommen.

Als sich Henry Cow im Jahre 1971 in London niederliessen, erschien gut zwei Jahre später ihr Debutalbum, bei welchem Freunde des Free Jazz ebenso auf ihre Kosten kamen wie Rock-, Klassik- und Folk-Freunde. Noch im gleichen Jahr absolvierten Henry Cow eine Tournee mit der deutschen Folrmation Faust quer durch Grossbritannien. Dabei wurde prinzipiell in kleinen Hallen oder Clubs gespielt, um einen engen Kontakt zum Publikum herstellen zu können, das allerdings nur spärlich zu den Konzerten erschien. Nach der Veröffentlichung des Doppelalbums "Greasy Truckers: Live At Dingwall's Dance Hall", zu welchem Henry Cow eine LP-Seite beisteuerten und nach einer Europa-Reise zusammen mit Captain Beefheart & His Magic Band kam es zur zweiten Produktion. Dieses Werk war noch unzugänglicher und sperriger als das Debutalbum und offerierte neben zahlreichen esoterisch anmutenden Klangfetzen auch zerstückelte Melodie-Strukturen, die nur schwer nachvollziehbar waren. Teilweise wurden anfänglich noch relativ konkret wirkende Songstrukturen bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst. Das war pure Avantgarde, reich an musikalischen Visionen der vielleicht radikalsten aller experimentellen Gruppen der damaligen Zeit. Klar war allerdings sehr schnell, dass sich auch für dieses abseitige Elaborat kaum Käufer finden liess.

Trotz bemerkenswerter Reaktionen aus dem intellektuellen Umfeld und viel Beifall aus Frankreich, Italien, Belgien und später auch aus den USA, für welchen hauptsächlich Cutler's und Frith's gute Beziehungen zur amerikanischen Gruppe The Residents verantwortlich waren, erreichten Henry Cow nur sehr moderate Platten-Verkaufszahlen. Es erschienen in permanent wechselnden Besetzungen drei weitere genauso wenig zugängliche Alben, sowie zahlreiche Soloplatten von Fred Frith, John Greaves und Peter Blegvad. Nach der Auflösung des allzu abgehobenen Musiker-Kollektivs, das seine Ideologie ausserhalb gängiger musikalischer Normen verkünden wollte, blieb der Kontakt zwischen einzelnen Musikern bestehen. Frith und Cutler setzten ihre Duo-Arbeit fort, versuchten sich mit der merkwürdigen Band Aqsak Maboul und veröffentlichten drei Alben mit den Art Bears. Peter Blegvad erregte 1983 mit seiner schöngeistigen LP "The Naked Shakespeare" die Aufmerksamkeit der britischen Musikpresse, während Anthony Moore's Anlauf auf die Hitparaden mit dem Soloalbum "Flying Doesn't Help" scheiterte.

Das Cover des Live-Albums "Concerts" wurde als Plakat für das erste inoffizielle Konzert, organisiert von Rec Rec Zürich benützt: Henry Cow spielten im Januar 1978 in Zürich in der Aula Rämibühl und im Luzerner Kunstmuseum. In der Musik, die sie an diesen Abenden spielten, war eigentlich bereits alles enthalten, was uns bis heute beschäftigen sollte: Canterbury Scene, Rock In Opposition, Improvisation, Frauenmusik, Free Jazz, Moderne Komposition, Singer/Songwriter. Mit Lindsay Cooper, Chris Cutler, Fred Frith, John Greaves, Tim Hodgkinson, Dagmar Krause, Geoff Leigh und Robert Wyatt. Die Schreie von Dagmar Krause während der 26-minütigen Improvisation "Oslo" blieben bis heute absolut markdurchdringend und einzigartig. Die deutsche Avantgarde-Künstlerin tat sich kurze Zeit später auch mit Kevin Coyne zusammen und veröffentlichte mit ihm das Album "Babble".








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