KARTHAGO - Rock 'N Roll Testament (Bacillus Records BLPS 19201, 1974)
Kein anderes Album von Karthago war wohl dermassen umfangreich und intensiv vorbereitet worden wie dieses, dessen Songs kompositorisch ausschliesslich aus der Feder von Joey Albrecht stammten. Das ist der grösste Unterschied zu allen anderen Karthago Alben, vor allem zum Werk "Second Step", auf dem sich jedes Mitglied der Band auch selbst verwirklichen konnte. "Rock 'N Roll Testament" besass von A-Z eine einheitliche Linie, geprägt von Joey und seiner damaligen Vorliebe zur amerikanischen Funky Music und der Beziehung zu Tom Cunningham. Dieser in Berlin lebende Amerikaner, später selbst Erfolgsproduzent und erfolgreicher Songwriter, war Texter fast aller Songs des Albums. Wenn Joey Albrecht sich mit Textern verstand, war das meist eine sehr intensive, sich gegenseitig beeinflussende Symbiose auf geistig und musikalischer Ebene, fast so etwas wie ein eheähnliches Verhältnis. Albrecht's Rolle als Komponist und seine Zusammenarbeit mit Tom Cunningham waren der Geist, die Handschrift von "Rock 'N Roll Testament". Sein Gesang und sein geniales Gitarrenspiel waren die durchgehend tragenden Elemente und absoluten Höhepunkte zugleich.
Tommy Goldschmidt war mit seiner Perkussion eigentlich das wesentliche und zentrale Unterscheidungsmerkmal von Karthago gegenüber andern deutschen Bands, die technisch versierte Musik in angloamerikanischer Richtung spielten. Dadurch klang die Band Karthago vor allem hier auf diesem Werk äusserst groovy und perkussiv. Das Songmaterial des Albums unterstrich in fast allen Songs diesen einmaligen Percussion Teil der Band mehr, als es die anderen Studioalben davor taten. Ingo Bischof war wieder mit allen Tasteninstrumenten erstklassig und virtuos vertreten, beeindruckte mit seinem Einfühlungsvermögen und brillierte solistisch. Solide Grundlage aller solistischen Höhenflüge waren das Schlagzeug von Konni Bommarius und der Bass Drive des Ex-Jethro Tull Bassisten Glenn Cornick. Seit den Aufnahmen zum Album "Second Step" in den Hamburger Windrose Studios hatte sich einiges bei Karthago getan. Die Band war zur Life Attraktion auf deutschen Bühnen und viel bekannter geworden. Die Konzerbesucherzahlen stiegen stetig, die Publikumsbegeisterung war gewaltig. Auftritte in anderen europäischen Ländern wurden häufiger. Die Journalisten von Funk und Presse zeigten sich zunehmends interessierter, teilweise selbst zu Fans, Joey Albrecht und die Band zum Lieblingsmotiv der Musikfotografen. Nicht nur die anderen deutschen Bands waren trotz aller Konkurrenz von Karthago überzeugt und begeistert, sondern auch die englischen und amerikanischen Künstler und Bands, mit denen Karthago auf Festivals oder in Clubs zusammen spielte.
In den Publikumsvotings der Musikzeitschriften Pop, Musik Express und Sounds, meist 'Pop Polls' genant, belegten Karthago in der ersten Hälfte der 70er Jahre sowohl als Band als auch in den Solistenpositionen durchgehend die Plätze 1 bis 3. Wenn auch damals unter den Bands eher verpönt, so war es doch eine gewisse Ehre, in der Bravo mit ganzseitigem Farbbild erschienen und in der ZDF Disco bei Ilja Richter aufgetreten zu sein. Die Musiker sahen eben neben all ihren Fähigkeiten auch noch blendend aus und besassen bei ihren Fans durchaus echten Rockstar-Status. Trotz aller positiver Entwicklung war das Bandleben zu dieser Zeit indes äusserst schwer. Finanzielle Sorgen drückten fast alle Bands und die gruppendynamischen Prozesse forderten auch hier ihre Opfer. So hatten bereits vor "Rock 'N Roll Testament" der Bassist und Gründungsmitglied Gerald Luciano Hartwig und der Schlagzeuger Panzer Lehmann die Band verlassen. Am Schlagzeug hatte sich die Band dann für Konni Bommarius aus Mannheim entschieden. Bezüglich eines neuen Bassisten tat sich die Band besonders schwer. Die Kandidaten, die hierzulande in Frage gekommen wären, waren woanders fest engagiert. So entschied die Band, ihr Glück per Audition in London zu versuchen. Das Management Team, Cornelius und Marcellus Hudalla, hatte auf Grund seiner Fotografen- und Journalisten-Tätigkeit sehr gute Beziehungen zu den dortigen Managements, Agenten, Studios, Medien und Musikern. Die Gruppe hatte mit dem Schritt, die Musikersuche auf London auszudehnen, für deutsche Bands absolutes Neuland betreten. Es war erstaunlich, wer sich alles zu dieser Audition gemeldet hatte und Karthago bekam von den Topmusikern höchste Komplimente. So fand zum Beispiel auch der Bassist der Jeff Beck Band die Karthago Version von "Going Down" wesentlich besser als die von Jeff Beck selbst.
Bei aller Begeisterung über die musikalische Kompetenz der Karthago Musiker hielt sich jedoch die Bereitschaft von Swinging London auf die Insel Berlin mitten im bedrohlichen Kommunismus umzusiedeln, doch fast ängstlich in Grenzen, bis dann einer schliesslich doch ja sagte: Glenn Cornick, der bekannte Bassist von Jethro Tull, der mit dem Stirnband und der Brille. Cornick war ein echter, weltweit bekannter Rockstar, zudem noch ein toller Bassist und unheimlich netter Kerl. Als Zugabe brachte er noch seinen amerikanischen Strassenkreuzer nach Berlin, mit dem die Band dann oft zu Auftritten fuhr. Parallel zur Rekrutierung von Glenn Cornick lief auch ein Wechsel der Plattenfirma. Karthago hatten das finanziell lukrative Angebot der BASF ausgeschlagen und beim Bazillus-Label der Bellaphon Records einen neuen Vertrag unterzeichnet. Der Hauptgrund war, dass deren damaliger Manager Peter Hauke als Produzent erfolgreich war und mit Nektar die erste, hier ansässige Band in die USA gebracht hatte, was auch das klare Traumziel von Karthago war. Hauke produzierte zudem in tollen Aufnahmestudios in England und setzte ganz abgefahrene Künstler zur Gestaltung der zu der Zeit tollsten Plattencover ein.
Peter Hauke organisierte dann für die Band eine Aufnahmemöglichkeit im renommierten Chipping Norton Studio in Wales. Toningenieur war Barry Hammond, der unter anderem Aufnahmen von Berühmtheiten wie Carly Simon, James Taylor, Chris Farlowe und vielen weiteren prominenten Bands und Musikern gefahren hatte. In der walisischen Abgeschiedenheit von Chipping Norton wurde die Gruppe dann, völlig entgegengesetzt zu ihren Vorfreuden, Hoffnungen und Erwartungen, von einer Menge einzelner und gruppendynamischer Problemen überrollt, die fast zu einem Scheitern der Aufnahmen geführt hätten. Selbst ein Besuch von Ex-Fleetwood Mac Gitarist Peter Green änderte nichts an der Situation. Vielleicht war das sogar ein schlechtes Karma. Er hatte ja auf dem damaligen Höhepunkt von Fleetwood Mac unerklärlicher Weise die Band verlassen und soll auf dem dortigen Friedhof als Totengräber gearbeitet haben. Im Nachhinein irgendwie gruselig, obwohl so eine Geschichte dort durchaus in die Landschaft passt. Dennoch nahm die Band in den Studios dann in harter Arbeit und eiserner Disziplin ganz hervorragende Songs auf für das nächste Album.
Zum Abmischen der Stücke ging es im Dezember 1974 in das Air Studio in London, der Soundtempel schlechthin, der seiner Zeit George Martin gehörte. Besagter George Martin war auch anwesend und produzierte gerade die Bee Gees. Karthago's Mixing Engineer war kein geringerer als Geoff Emmerick, damals so etwas wie der Gottvater seiner Zunft. Geoff Emmerick hatte als Soundengineer den Grammy, die höchste Auszeichnung der Musik Branche, für die Alben "Seargent Pepper's Lonely Hearts Club Band" und "Abbey Road" der Beatles, "Band On The Run" von Paul McCartney und sein eigenes Lebenswerk erhalten. Die Band Karthago war eigentlich dort angekommen, wovon jeder kleine Musiker, der einmal in einem muffigen Keller seine ersten Schritte als Band begonnen hat, träumt. Die Musiker von Karthago durften mit den Stars der Szene, im Mekka der Rockmusik, in London arbeiten, was das Selbstbewusstsein der Musiker nachhaltig stärkte.
Der Hammer war aber die traurige Tatsache, dass es Peter Hauke trotz intensivster Bemühungen nicht gelungen war, eine Aufstockung des veranschlagten Budgets für die Produktionskosten für "Rock 'N Roll Testament" bei den Labelverantwortlichen durchzusetzen. Im Gegensatz zu Karthago's erfolgreichen Vorbildern in London oder Amerika war die Band dann doch noch nicht so weit, und hatte nicht den grossen finanziellen Freiraum, um ihre Kreativität voll auszuleben und mögliche Schwachpunkte so lange zu verbessern, bis sie mit dem Ergebnis glücklich und zufrieden gewesen wären. Das bedeutete im Falle der Songs von "Rock 'N Roll Testament", dass das gesamte Album, 10 Titel auf 24 Spuren, die teilweise mehrfach belegt waren, an einem Tag abgemischt werden musste. Eigentlich geht so etwas nicht, auch nicht mit einem Top-Crack wie Geoff Emmerick. Karthago hatten es aber geschafft.
Das ursprüngliche Plattencover mit dem Elefanten von Helmut Wenske als Klappcover war gigantisch. Die motivgleichen Plakate waren in ganz Deutschland zu sehen und es gab im ganzen Lande kaum eine Raststätte oder Clubtoilette, in der man nicht den adäquaten Sticker finden konnte. Das Album ist ein ausgeprägtes 'Songalbum' mit tollem Gesang von Joey Albrecht und sehr melodischen, oftmals zweistimmigen Passagen, gemeinsam mit Tom Cunningham. Sein Gitarrengenius drückt sich auf diesem Album mehr durch seine überragenden technischen Fähigkeiten aus, als durch seine sonst so signifikante spontane Emotionalität. Highlights für Gitarrensounds sind "The Creeper" und die 'Tribute To Hendrix'-Nummer "See You Tomorrow In The Sky". Einmalig die Gitarrensymphonie "Rock 'N Roll Testament" und absolute Weltklasse das Solo in "Highway Five". Tastenmann Ingo Bischof gab dem Album mit seinen Keyboards das gewisse Etwas an Klangfarbe. Genial das Feeling am Mini Moog in "Sound In The Air" und absolute Weltklasse sein Solo am Flügel im Titel "We Gonna Keep It Together". Etwas Vergleichbares kann man vielleicht in "Jessica", dem Paradestück der Allman Brothers, gespielt von Gregg Alllman hören. Ingo Bischof spielte diesen Part in einem einzigen Take ein.
Der Schlagzeuger und Perkussionist Tommy Goldschmidt schliesslich machte das Album "Rock 'N Roll Testament" zum richtigen Karthago Album. Es gab zu dieser Zeit keine Band in Deutschland ausser Karthago, die diese aussergewöhnliche Klangfarbe rhythmischer Untermalung zu bieten hatte. "Hard Loving Woman", "We Gonna Keep It Together", "Highway Five" und "For Kathy" waren Zeugnisse seiner südamerikanischen Herkunft und Highlights seiner brillanten Ausdruckskraft. Vicky Brown, Barry St.John und Joanne Williams, keine Geringeren als der Backing Chor von Elton John, waren die Stimmen-Engel im Hintergrund bei "Hard Loving Woman", "Now The Irony Keeps Me Company" und "For Kathy". Sensationell deren Gesang in "Now The Irony Keeps Me Company". Sie boten bei diesem Song wahre Gänsehaut. Karthago's 1974er Werk "Rock 'N Roll Testament" ist ein echtes Testament: Ein Schatz der kraut-deutschen Musikgeschichte, das viel mehr war als der gemeinhin bekannte Krautrock, der allzu oft als experimentelle Art von Musik auf sich aufmerksam gemacht hat. "Rock 'N Roll Testament" ist ein richtig tolles Rockalbum, vielleicht eines der Besten, das in den 70er Jahren von einer deutschen Band aufgenommen wurde.
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