Oct 25, 2016


NEAL MORSE - Testimony (Radiant Records 3984-14451-2, 2003)

Der Musiker Neal Morse dürfte inzwischen einer der erfolgreichsten Künstler der letzten 25 Jahre des Progressive Rocks und seit 2003 der erfolgreichste Solokünstler dieses Genres sein. Morse schaffte vor Jahrzehnten den Aufstieg aus dem Nichts mit seiner Band Spock's Beard und dem wegweisenden Progressive Rockalbum "The Light". Spock's Beard veröffentlichten mit Neal Morse an der Spitze in weniger als 10 Jahren nicht weniger als 17 CDs und DVDs. Neals spirituelle Suche fand seine Erfüllung im christlichen Glauben. Als er seinen Weg mal langsam, mal abrupt weiterging, offenbarte ihm dieser mehr und mehr, wonach sein Herz schon immer gesucht hatte. Und doch hatte er das Gefühl, dass seine Karriere irgendwie im Widerspruch zu seinem Glauben stand. 2002 schockierte er die Prog-Welt dann, als er bekannt gab, dass er die beiden Bands, die er gegründet und die ihn weltweit bekannt gemacht hatten, Transatlantic und Spock's Beard, verlassen würde.

Daraufhin begab sich der Musiker an das ambitionierteste Musikprojekt seiner Karriere: "Testimony", das seine spirituelle und musikalische Reise in Worten und Musik aufzeichnete. Das Doppelalbum (welches er 2004 auch als 2-DVD Livekonzert "Testimony Live" veröffentlichte) erstreckte sich über zwei Stunden als ein durchgängiges Musikstück und reichte stilistisch von Gospel bis zu Hard Rock und von Sinfonieorchester bis zu zeitgenössischer Popmusik. "Testimony" war auch Neals erstes Album von vielen weiteren, das er mit dem ehemaligen Dream Theater Schlagzeuger Mike Portnoy einspielte. Ein geschickt verwobener musikalischer Wandteppich, der den Hörer mit auf eine faszinierende Reise nimmt, die so einzigartig ist wie der Mann, der hinter ihr steht. Neal Morse veröffentlichte über die Jahre viele weitere Alben, die allesamt von den Kritikern geliebt wurden und zu den erfolgreichsten Veröffentlichungen im modernen Progressive Rock zählen.


"I wish there was a way to start again, just blink and count to ten in the land of beginning again". Neal Morse hatte den musikalischen Neuanfang gewagt, seine alten Zelte abgebrochen und dafür ein Neues aufgeschlagen. Musikalisch blieb er sich selbst jedoch relativ treu. Bei aller Neugier auf einen völlig neuen Musiker war das vielleicht die beste Erkenntnis, die man nach dem erstmaligen Anhören seines dritten Soloalbums "Testimony" gewinnen konnte. "Testimony" war das eigentliche neue Spocks Beard Album, jedoch nur auf den ersten flüchtigen Höreindruck, denn mit mehrmaligem Durchhören entfalteten Morse's erste Solostücke eine unglaublich schöne Eleganz, die sich vor allem darin manifestierte, dass die Stücke nicht mehr soviel harten Rockanteil in sich trugen, sondern mit Streichern, Saxophon, Trompete und French Horn deutlich weichere Züge erfuhren. Mit einer wundervollen und recht leisen Ballade eröffnete Neal Morse dieses Werk und zeigte dem Zuhörer die erste Station seines neuen Lebens.

Es folgte ein an die Spocks Beard Platte "Snow" erinnerndes Progressive Rock Stück, betitelt "Overture", und man ahnte schon, dass dies einer der Höhepunkte dieses Albums werden würde, wobei man beim erstmaligen Anhören ja noch nicht weiss, was noch alles auf einem zukommen wird. Anyway, "Overture" zeigte bereits nach wenigen Takten, dass Neal Morse auch solo absolut top und brilliant klingt. Eigentlich hatte man auch gar nichts Anderes von diesem Ausnahmetalent erwartet. Diese "Overture" besass alle Ingredienzien, die man vom zuvor noch veröffentlichten letzten Spocks Beard Album "Snow" kannte, bei welchem Morse noch bei der Band war: Zur Einstimmung bedrohlich wirkende Streicher, ein French Horn, dann der Einsatz des Klaviers, wieder ein Streicher-Satz, dazu ein Solo mit dem Cello, die typische Hammond Orgel, ein fetter Synthesizer Bass und ein sehr dynamisch gespieltes Schlagzeug: Fans konnten aufatmen, denn das waren die gewohnten Zutaten des für Neal Morse absolut typischen Breitwand Sounds. Dieses erste Stück erinnerte teilweise an das "Duel With The Devil" vom Transatlantic Album "Bridge Across Forever". Spätestens hier war jedem Musikhörer klar, dass er beruhigt weiterhören konnte: Trotz Morse's Hingabe zum christlichen Glauben blieb er seiner musikalischen Linie ziemlich treu und versuchte nicht, den Hörer irgendwie musikalisch mit etwaigen Kirchenchören, Orgelchorälen oder Bibelzitaten zu missionieren. 

"California Nights" überraschte mit einer schlichten und fröhlichen Grundstimmung, dessen Höhepunkt ein Solo des French Horns war und in einem anschliessenden Instrumentalpart mit gemütlichem Sonnenschein-Groove ein sehr schönes und sehr unspektakuläres Gitarrensolo zeigte, das unterlegt wurde durch einen ansprechenden Damenchor, der einem irgendwie etwas an Pink Floyd's "Great Gig In The Sky" erinnerte. Sanfte Streicher, der Einsatz des Mellotrons und tiefe Pauken beendeten dieses gegen Ende leicht hymnisch wirkende Stück. Dieses wurde direkt übergeleitet in "Colder In The Sun", welchem ein fetziger Rhythmus im Stile von "At The End Of The Day" zugrunde lagt. Der Gesang wirkte hier teilweise recht bedrohlich, der Keyboardsound sehr direkt und eindringlich, den Songtext sehr gut unterstützend. Das Stück bereitete grossen Spass; auch hier streuten die Streicher interessante Farbtupfer ein. Einerseits auf eher bombastische Art, das dann beispielsweise an das Stück "Pirates" von Emerson, Lake & Palmer erinnerte, dann aber auch wieder mit zarten Keyboardtupfern - auf jeden Fall äusserst dynamisch und wunderbar spannend. 

"Sleeping Jesus" begann still mit Percussion, akustischer Gitarre und Gesang. Ein ruhiges, fliessendes Stück, das erst etwas Tempo und Druck rausnahm, um sich dann wieder zu steigern. Rollende Toms kamen hinzu, die Hammond Orgel setzte Stakkatoakkorde oben drauf, die akustische Gitarre spielte gedankenverloren vor sich hin, bis ein ziemlich bombastisches Rock-Teil wieder progressive Fahrt aufnahm, und mit einem kurzen instrumentalen Zwischenspiel, das sehr gut rockte, überleitete in das Stück "The Prince Of The Power Of The Air", welches das zuvor angespielte Zwichenthema fortsetzte: Hart und rockig. Es folgte mit "The Promise" ein federleichtes Samba-Teil mit interessantem Gesang und einem Solo, das wundervolles südamerikanisches Flair verströmte. "Wasted Life" als letztes Stück von Part One der grossen "Testimony"-Saga war eine sehr besinnliche, ruhige, von Klavier und warmem, schwingendem Bass bestimmte Ballade, die gegen Ende richtiggehend hymnisch und atmosphärisch wurde. Das war es dann mit dem ersten Teil dieser opulenten Geschichte.

Der zweite Teil dieses opulenten Werkes beginnt mit der "Overture No. 2". Wieder stimmen ein fetter Bass, füllende Streichersätze, tolle Übergange, Dynamiksprünge und intelligente Breaks dynamisch ein. "Break Of Day" wirkt vertraut und recht bodenständig, fast mit poppigem Charakter. Auch mit "Power In The Air" macht Neal Morse in etwa da weiter, wo er mit "Colder In The Sun" aufgehört hat. Wirkt auch vertraut. "Somber Days" ist eine ruhige Ballade, für die das gleiche gilt, wie für die Titel zuvor. Entweder nimmt Morse hier Themen von früher wieder auf oder er setzt ganz einfach auf Bewährtes. Anyway: es klingt einfach wunderbar. Schön ist ein Flötensolo, das Stück als Ganzes bleibt angenehm in seiner Struktur. Es ist symptomatisch für die Stimmungen und Lebenskrisen, die Neal Morse nicht nur dieses Album komponieren, sondern auch ein Christ werden liessen. Die nachfolgende "Long Story" wirkt anfangs etwas arg gewöhnlich, dann folgt ein groovendes Zwischenspiel mit Hammond-Tupfern, Gitarre und tollem Schlagzeug. Das Thema gab's vorher allerdings auch schon mal. Das traurig-depressive "It's All I Can Do" beendet die erste CD. Sehr persönlich und mit eindringlichem Text singt Morse von vergangenen Zeiten, in denen er verzweifelt und wohl ohne Lebenslust war. Ein starker Ausklang für die erste CD.

Die zweite CD beginnt mit "Transformation" den dritten Teil von "Testimony". Ähnlich wie die Overturen gibt es wieder wuchtige Streicher, tiefe Bassuntermalung und treibend-dampfendes Schlagzeug. Dann setzen Bläser ein und es öffnet sich das erst düstere Klanggemälde mit Genesis-typischen Akkorden in das hymnisch-rockige "Ready To Try". "Sing It High" ist dann wieder kontrastiert anders: mit schneller Akustikgitarre und nur sanfter Bass Drum im Hintergrund wirkt es beinahe wie ein Folksong am Lagerfeuer. Western Gitarren-Solo, Hillbilly-Violine und Zwischenrufe sorgen für authentisches Feeling. Es folgt Part Four und "Moving In My Heart", in welchem Morse über sich und seine Frau Cherry und ihre Heirat singt. Sehr schön und sehr persönlich. "I Am Willing" ist das erklärte Lieblingsstück von Neal Morse. Das Stück ist ruhig, mit viel Atmosphäre und Gefühl, fliesst wunderschön dahin und balsamiert einem die Seele. Einer der vielen Höhepunkte, wenn auch kaum progressiv. Gegen Ende wird dieses Stück angenehm erhaben, fast hymnisch. Das nachfolgende "In The Middle" erinnert wieder ein wenig an "Duel With The Devil" und bietet ein klanglich recht ungewöhnliches, aber recht spannendes Klaviersolo. Nahtlos geht es weiter mit "The Storm" und einem Trompetensolo, gef olgt von einem tollen Saxophonsolo, der spanischen Gitarre. Je länger man dem Werk zuhört, desto häufiger erscheint einem das Ganze konzeptmässige Schleifen zu beinhalten. Immer wieder werden Themen und Ideen wieder aufgenommen und leicht variiert. So entsteht insgesamt schon bald eine gewisse Vertrautheit mit der Musik und instinktiv wünscht man sich, das möge nie enden.

Mit "Oh To Feel Him" beginnt der Lobgesang auf Gott. Stilistisch ähnlich wie "It's All I Can Do" preist Neal Morse hier den Herrn, beschreibt seinen Weg zu ihm und dankt ihm dafür. "God's Theme", welch ein Titel. Da braucht es schon viel Überzeugung und Mut, ein Stück so zu nennen. Pathetisch, gefühlvoll, erhaben und trotzdem jederzeit nachvollziehbar. DEr Part Five beginnt mit der dritten Overture. Stilistisch den ersten beiden ähnlich, vielleicht etwas fröhlicher gehalten, aber nicht mit weniger Grandezza eröffnet sie die finale Lobpreisung des Herrn. "Rejoice" ist das grossartige "Wind At My Back" von "Testimony". Let`s praise the lord! The king is here! "Oh Lord My God" nimmt ein früheres Thema wieder auf und führt es rockig, mit trockenen Beats direkt in "God's Theme 2" über. Neal Morse ist angekommen. Er hat sich gefunden, seinen Platz, seine Bestimmung. There is a land of beginning again.


2011 veröffentlichte Neal Morse, acht Jahre nach diesem phantastischen Werk mit "Testimony 2" erneut epische Progressive Rock Hymnen mit Tiefgang, die den Zuhörer überwältigten und Melodien, die ihn tief berührten. Auf der ersten CD erzählte Neal Morse seine eigene Geschichte, beginnend mit der Gründung von Spock's Beard bis hin zu dem Zeitpunkt als er die Band 2002 verliess. Das brillante Konzeptalbum beinhaltete 13 Songs, die in 3 Kapitel unterteilt waren. Die zweite CD beinhaltete drei grossartige Songs, wovon auf "Seeds Of Gold" niemand geringerer als Steve Morse, der legendäre Gitarrist von Deep Purple zu hören war. Trotz desselben Namens sind die beiden Künstler jedoch nicht miteinander verwandt.






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