Oct 17, 2016


PIL - This Is PIL (PiL Official Records PiL 002 LP, 2012)

John Lydon, oder Johnny Rotten ist eine der zentralen Ikonen der ersten britischen Punk-Welle Ende der 70er Jahre. Die Gadgets seiner Band Sex Pistols sind am Beginn des 21. Jahrhunderts so weit zu Tode ikonisiert worden, dass man Punk-T-Shirts im 77er-Style bei inzwischen auch bei H&M kaufen kann. In dieser Position steht er allein, höchstens Sid Vicious, dessen stumpfe Destruktivität Lydon schon auf dem ersten PIL-Album in "Bad Life" blosstellte, könnte ihm noch so gerade das Bier reichen. Aber alle anderen ? The Clash ? Siouxsie und ihre Banshees ? Die Buzzcocks etwa ? Fallen im direkten Vergleich fast schon wieder in die Rubrik 'nerdiges Spezialwissen', was übertrieben ist, aber es geht hier ja auch nicht um das gekränkte Bescheidwissertum tatteriger Von-Anfang-an-dabei-Päpste, sondern um Susi Spakowski (15), die von Punk natürlich keine Ahnung hat, aber den Union Jack mit dem Kopf der Queen und schwarzem Balken über den Augen und Sex Pistols-Schriftzug drumrum, den hat sie schonmal gesehen. Und Johnny Rotten's Gesicht wahrscheinlich auch. Was diesen Grad an totaler Durchgesickertheit angeht, ist Johnny Rotten der Elvis Presley des Punk. Oder der Che Guevara der Rockmusik überhaupt. Na, nicht ganz, aber hinter Elvis und Bob Marley kommt er schon bald.

Er ist der unsterbliche König der 'Bunte Haare Bürgerschreck-Frisur' und der 'Auf die Spitze getrieben haber' englischer Cockney-Schnodderigkeit, wie wir sie uns vorstellen. Er verkörpert das, was mal die ursprüngliche Idee von Punk gewesen sein soll: Ein teils unspezifisches, eher nihilistisch orientiertes Dagegen-Sein, alles Scheisse finden, Pink Floyd hassen (stand auf seinem T-Shirt. Sowas reichte damals noch, um aufzufallen). Mit dem naiven Polit-Gepröller von The Clash, mit deren Rebellen-Romantik, die später von Vereinen wie U2 aufgegriffen und damit endgültig zur lächerlichen Pathosgeste degeneriert wurde, hatte und hat Johnny Rotten nichts, aber auch gar nichts an der Bondage-Hose. Man hat ihn harsch kritisiert. Dafür, dass er mit den Sex Pistols Reunion-Konzerte gemacht hat, also dafür, dass er sich rausnimmt, im Nachhinein nochmal eine kleine Stange Geld zu verdienen. Das ist das selbstgerechte Gejaule gut situierter Mythen-Junkies, die sich verraten fühlen. Sie sollen alle ihre Mäuler halten. Man hat ihn kritisiert, weil er mit P.I.L. in deren Endphase klebrige Pop-Musik machte. Mir hat das immer gefallen, weil er anwesend war, und wenn Johnny Rotten über antiseptischem 80er Jahre Musiker-Geklöppel "Well, isn't that what frieds are for" nöhlt, dann klingt das wie die das inhaltliche Gegenteil und wie die Stimme gewordene Antithese zur musikalischen Gefälligkeit.

Andererseits hat er mit "Metal Box" eine Platte veröffentlicht, von der manche Leute sagen, die wäre besonders innovativ, und an einem der besten Alben der 80er, das tatsächlich auch noch Album hiess und unter Public Image Ltd. lief, das letztlich aber vielleicht doch eher ein Projekt von Bill Laswell war, weil Laswell bei der Entstehung und Fertigstellung dieser Metalldose massgeblich beteiligt war. Man weiss nicht, ob andere gute PIL-Platten Ausgeburten eines visionären Geistes oder Glückstreffer aus der Schnellschuss-Kanone waren, aber das ist auch egal. Viel Gutes dabei, so oder so. Und 2012, viele Jahre nach dem letzten P.I.L.-Album, kam also was Neues:

"...This is Pil!...Public Image Limi-TED!...Pee-Aye-EELL!...You are now entering...a Pil zone!...Welcome to Pil..." skandierte John Lydon im Titeltrack und Opener seines "This Is" Albums, das sich unter allen Alte Scharteken-Comebacks der letzten Jahre als eines der gelungensten entpuppte. Man hatte das lange nicht mehr gehört, aber man erinnerte sich sofort wieder an diese Attitüde, dieses Heulen, dieses Klagen, dieses gerollte "R", diese überstilisierten Endkonsonanten, und fast im gleichen Moment erinnerte man sich wieder an diese Frisur und fühlte sich diesem stechenden Blick ausgesetzt. Der stimmlich vorteilhaft gealterte, späte John Lydon klang inzwischen wie ein manischer Marktschreier aus dem letzten Jahrhundert, der ohne Rücksicht auf Konventionen und Zeitströmungen markerschütternd sein Produkt anpries. Und dieses Produkt war er selbst. Der Mann, der in absolut zutreffender Selbsteinschätzung von sich sagte, er hätte Arroganz in eine Kunstform verwandelt, bis hin zu dem Punkt, an dem sie zu Comedy wurde.

Man muss unweigerlich lachen, während man "This Is Pil" hört. Weil ein Musiker so etwas erst einmal bringen muss. Scott Firth spielt dazu einen wummernden Jah Wobble-Basslauf, wohingegen Robert Edmonds' Gitarrenspiel noch am ehesten an die Wave-Pop-P.I.L. der 80er und 90er-Jahrzehntwende erinnert. Best of both worlds ? Nein, das wäre eine zu simple Beschreibung des P.I.L.-Sounds anno 2012. Die halbstrukturierten 'under heavy manners'-Tracks von "Metal Box" sind ohne Frage eine Referenz, und man hört auf "This Is PIL" wie damals vor allem die Band. Overdubs und Effekte halten sich in geschmackvollen Grenzen, beschränken sich auf kunstvoll gesetzte Delays auf den Gitarren oder den Gesängen und subtile Sequencer-Linien oder zusätzliche Rhythmusspuren. Alles ein bisschen zivilisierter als auf "Metal Box" und vor allem sehr viel melodiöser: Das Songwriting bei "Reggie Song" ist vom selben Schlag wie dasjenige mancher P.I.L.-Schweinerocknummern, aber die Platte driftet keine Sekunde lang auch nur ansatzweise in solche Gefilde ab. Die leicht angemuffte, warm wummernde und jederzeit transparente Produktion gefällt mir ausgesprochen gut. So muss Post-Punk mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts in Szene gesetzt klingen.

Nach dem tollen Stück "One Drop" kommt "Deeper Water" und haut ziemlich exakt in dieselbe Kerbe: Die Rhythm Section spielt einen muskulösen Bastard aus Rockbeat und Riddim, der Gitarrist sorgt mit ein paar einfachen Licks und Flächen für das extra Quentchen Dynamik, und dann kommt Lydon. "I won't go down. I will not drown. I will head for deeper waters" - aus Edmonds' Geklingel schält sich ein müder, hohler Chor, und man ist ergriffen. Man findet das unweigerlich schön, und diese Empfindung hat mich tief getroffen, als ich "This Is PIL" die ersten Male hörte. Lydon klingt einerseits so, wie man ihn seit eh und je kennt, und als Sänger und Mastermind von Public Image Ltd. bot er ja schon immer viel mehr Persönliches an als bei den Sex Pistols. Aber auf manchen Songs dieses Albums ist da etwas Trauriges, und ich scheue mich fast, es zu sagen: etwas Mildes, vielleicht sogar etwas Weises. Am stärksten transportiert John Lydon diesen Cocktail auf dem fantastischen "Human", einer bitteren Bestandsaufnahme des britischen Erziehungssystems ("School was always torture here") und seiner politischen Klasse: "People, what are you doing here? Who are you listening to and who are you looking up into ? Are you looking up into ? If these are your leaders they're not good enough for you, because I'm human". Später singt er Sachen, die, von Geringeren intoniert, sentimental, wenn nicht prä-senil oder reaktionär klingen würden:

"Because I think: England's died, most of all, above the screaming and the poseurs here
I miss the roses, those English roses, of salad and beer and summer here
and many mannered ways of cotton dresses skipping across the lawn
of happy faces, when football was not a yawn"

Nur John Lydon kann sinngemäss 'früher war alles besser' singen, ohne dass man Fremdschämen bekommt. Denn seine Anti-Haltung, die es noch nie nötig hatte, sich selbst zu hinterfragen oder argumentativ zu legitimieren, bleibt trotz der Trauer über Verlorenes ungebrochen. "Ich würde diese Einstellung nicht durchhalten." sagte Radiohead's Thom Yorke einmal darüber, und da können sich bestimmt viele anschliessen. Lu Edmonds leistet sich derweil Stakkato-Arpeggios, die so auch von Andy Gill (Gang Of Four) kommen könnten, und zwischendurch gibt's noisige Shredder-Soli. "It Said That" ist ein Song über Desinformation und Blendung, über das Erschaffen von Fakten durch die Massenmedien. Lydon kommt hier, wie auch auf anderen Stücken, mit einer Handvoll Zeilen aus, die er immer neu variiert und phrasiert. Reduzierung, Wiederholung, Verlagerung und Überspitzung: das sind seine stilistischen Mittel, und er hat sich aus ihnen eine Kathedrale gebaut. Die ist gross genug, um auch das in musikalischer Hinsicht etwas unoriginelle "Fool" noch zu etwas Bedeutendem zu machen. Lydons modus operandi funktioniert selbst über eine Distanz von fast 10 Minuten hervorragend: So lange läuft "Out Of The Woods", der technoide Abschlusstitel von "This Is PIL": Ein Basslauf, ein B-Teil, in der Mitte ein auf dem Banjo gespieltes 'Interlude', das wahlweise an Irish Folk oder Woven Hand erinnert. Und dazu John Lydon mit einem Text, dessen Worte nicht länger schnöde Bedeutungsträger zu sein scheinen, sondern eher rhythmische Chiffren. Sie klingen fast wie Dada-Lyrik:

"Jackson stood
'cause he could
because he should
looking good
to the wood, to the wood, to the wood, understood
here we are
near and far
as you are
here we are
here we are, here we are, here we are, here we are
into the wood, as we should, through the wood
secret wood, secret should
secret wood, understood
through the wood"

Ich bin entzückt und voller Ehrerbietung. Das ist in der Tat grosse Kunst. Aber wo soll man "This Is PIL" hinstecken ? Ich wage mal eine Einordnung: "First Issue" (1978) und natürlich "Metal Box", respektive "Second Edition" (1979) sind unantastbar. Auf Platz 3 kommt nach meiner bescheidenen Meinung entweder "Happy ?" (1987), "Flowers Of Romance" (1981) oder "Album" (1986). Aber dann, also immerhin auf Platz 4 kommt "This Is PIL", und das ist nicht schlecht für eine Rückkehr nach 20 Jahren, oder ? Was das Album der sich inzwischen doch stark veränderten Musiklandschaft mitzuteilen hat, ja, das wäre sicher eine andere Frage, aber die Antwort darauf ist mir persönlich vollkommen egal. "This Is PIL" ist einfach eine grossartige Platte.



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