SONIC YOUTH - Daydream Nation (Enigma Records 7 75403-1, 1988)
Was kann man schreiben über "Daydream Nation" ? Was kann man schreiben über ein Album, dessen Stellenwert von Hunderten anderen Fans und Begeisterten in zyklischen Intervallen neu ausgemessen und verkündet wurde ? "Daydream Nation" haben ganze Heerscharen begeisterungsfähiger Indierock-Musikhörer (nicht wenige davon Angehörige der musikjournalistischen Zunft) zur besten Platte eines definierten Zeitraums erklärt; des Moments, der Woche, des Monats, des Jahres, des Jahrzehnts, des Jahrhunderts, der Vergangenheit, der Gegenwart, aller Zeiten, inklusive der absehbaren Zukunft. Ich selbst gehörte selten zum Kreis derjenigen, die solche Einschläge spürten, während sie einschlugen, geschweige denn vor ihrem Einschlag. Ich musste mir oft von Anderen erklären lassen, dieses oder jenes wäre sensationell und musikhistorisch relevant; und danach war ich froh und dankbar, erfüllt vom sicheren Gefühl des Verstehens, warum und fühlte mich ein bisschen besser, weil ich es begriffen hatte, denn Erweckungserlebnisse dieser Art ziehen sich durch mein ganzes Leben. Ich weiss also nach all den Jahren nicht mit letzter Sicherheit, warum "Daydream Nation" scheinbar auf einer Stufe steht mit der Erfindung des Rades, den zehn Geboten oder dem weltweiten Aussterben übergrosser Echsen. So ungefähr jedenfalls. Liegt es am Ausmass ihrer Kanonisierung oder einfach nur daran, dass ich dieses Album unbeschreiblich gut finde ?
Als ich 1988 "Daydream Nation" hörte, fragte ich mich, wieso ich eigentlich die ganzen Jahre davor meine Zeit damit vergeudet hatte, vollständig nicht-visionäre Musik verscheidenster Couleur zu hören, und mir dabei keine Gedanken zu machen über etwaige Meilensteine, die ich wohl in 50 Jahren immer noch mit grossem Genuss würde anhören können. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich "Daydream Nation" von Anfang an total grossartig fand, ob sie mich überrollt, an die Wand gedrückt, rüde genommen oder mit Engelszungen dazu verführt hat, Dinge zu tun, nach denen ich mich wie ein anderer Mensch fühlte, nicht unbedingt besser aber auf jeden Fall interessanter. Losgelassen hat sie mich jedenfalls nicht mehr, und das bis heute nicht.
"Daydream Nation" ist ein geradezu prototypisches Beispiel für eine Platte, die eben viel mehr ist als eine Reihe Lieder, und selbst davon mehr als üblich, denn "Daydream Nation" ist ein Doppelalbum, wie man das früher zu Vinylzeiten nannte. Sie ist ein in sich geschlossenes Werk und als solches bei den ersten Durchläufen schwer zu erfassen. Das liegt einerseits an ihrer schieren Masse, andererseits daran, dass sie äusserlich so verschwommen und monochrom daherkommt. "Daydream Nation" klingt manchmal wie die flirrende Hitze über dem aufgeheizten Asphalt einer pulsierenden Stadt; und diese Stadt ist mit grosser Sicherheit New York, denn nur da können Bands wie Sonic Youth herkommen, in dessen züngelnder Textur Fata Morganas entstehen und vergehen. Wer sich das Covermotiv, ein Bild von Gerhard Richter, auf dem eine Kerze zu sehen ist und das "Kerze" heisst und im Jahre 2008 für 10,5 Millionen Euro versteigert wurde, genau anschaut und nicht völlig abgestumpft ist, bekommt schon eine Idee davon, was für Musik sich auf dieser Platte befinden könnte. Selten passte eine Verpackung so perfekt zum Inhalt, und es wäre nicht einmal nötig gewesen, dass eines der schönsten Stücke auch noch "Candle" heisst. Ein anderes Stück nennt sich "Teenage Riot" und ist nach meinem Dafürhalten einer der besten Rocksongs aller Zeiten, unbedingt vergleichbar mit Neil Young's "Powderfinger", David Bowie's "Heroes" oder Bob Dylan's "Like A Rolling Stone", breit angelegten und dennoch mit relativ wenig Struktur und harmonischem Material auskommenden Strömen, die sich selbst transzendieren und zum Himmel auffahren. Songs, die, wie man so sagt, Mehr sind als nur die Summe ihrer Teile, und zwar sehr viel mehr.
Trotzdem wird man dem Album gar nicht gerecht, wenn man einfach nur sagen würde, dass "Teenage Riot" der beste Song ist und dass es daneben auch noch eine ganze Reihe anderer toller Songs auf dem Werk zu hören gibt, denn in der Tat gibt es sie zuhauf: "Silver Rocket", "Hey Joni", "Cross The Breeze", "The Sprawl", "Rain King" und natürlich "Trilogy", dessen Dreiteiligkeit einen der Höhepunkte des frühen Independent (Progressive-) Rock darstellt. Es geht gar nicht um einzelne Songs oder um einen Song nach dem anderen. Mit einem gewissen Abstand, respektive aus seinem Zentrum heraus betrachtet ist "Daydream Nation" so etwas wie ein einziger, einzigartiger, vielschichtiger Song. "Daydream Nation" ist Musik ohne Anfang und ohne Ende, und das mag zunächst dazu führen, dass ein Eindruck von Gleichförmigkeit, vielleicht gar Langeweile entsteht, ähnlich wie beispielsweise bei The Cure's Album "Disintegration", dessen Meisterwerk-Nimbus unbestritten, das sich allerdings im Vergleich mit "Daydream Nation" bestenfalls als "gewöhnlich" einnimmt. Sein Abwechselungsreichtum, sein formwandlerisches Potential, seine Unendlichkeit liegt letztlich in seiner Tiefe. Ich gebe zu, das scheint eine etwas vorschnelle Pointe zu sein für den eskalativen, Epochales verheissenden Climax-Aufbau davor. Aber nehmen wir mal eine Band wie Green Day. Wenn Musik Höhe mal Breite mal Tiefe ist, dann verfügen Green Day über eine Menge Breite und ebenfalls über viel Höhe. Mit der Tiefe ist es dafür nicht so weit her, aber das reicht, um eine Mehrheit glauben zu lassen, Green Day würden rocken, und mehr wollen die meisten Menschen ja auch gar nicht, und das ist ja auch okay.
"Daydream Nation" (und etliche andere Sonic Youth Alben übrigens auch!) haben aber im Vergleich zu Green Day schon auf den ersten Blick weniger Breite und Höhe, aber ohne Ende Tiefe. Sie sind wie zwei sich gegenüberstehende grosse Spiegel. Du stehst genau zwischen diesen Spiegeln, blickst nach links, blickst nach rechts und siehst, dass es ewig weiter geht. Etwas nüchterner betrachtet könnte man auch einfach sagen, du schaust in eine optische Feedback-Schleife. Feedback ist natürlich ein super Stichwort, wenn es um Sonic Youth geht. Anno 2016 gibt es sie seit 35 Jahren. Sie sind die Rolling Stones der Independentmusik. Man kennt sie und hält sie manchmal für etwas Selbstverständliches. Darüber übersieht man leicht: Es gibt nach wie vor keine Gitarrenband, die am laufenden Meter immer wieder anders oszillierende Skulpturen aus Sound zu errichten imstande ist. Thurston Moore und Lee Ranaldo sind die unverkennbarste Zwei-Gitarren Sektion der Rockmusik. Steve Shelley's Schlagzeugspiel ist so wunderbar integer und dienlich. Und die mächtige Kim Gordon macht Sonic Youth alleine durch ihre Anwesenheit zu einer besonderen Band, auch wenn ihre mitunter grenzwertigen Gesangsdarbietungen manchmal strapazierend wirken. Aber es darf nicht alles glatt sein im Leben!
Wir sprachen von Tiefe. Von sich gegenüberstehenden Spiegeln. Und so ist es wirklich: Wenn man in einen Tunnel hineinschaut, erkennt man meist nicht, ob er nach ein paar Hundert Metern aufhört oder doch in weitem Bogen zum Mittelpunkt der Erde führt. "Daydream Nation" führt einen mindestens bis dorthin, wahrscheinlich noch viel weiter. Diese Platte rockt auf seine Art wie eine LKW-Kolonne voller Betonklötze. Aber eigentlich ist "Daydream Nation" wie Lava; wie sich im Wind ständig verändernde und von der Sonne dramatisch schattierte Wolkenformationen, wie Luftaufnahmen gigantischer Metropolen im Zeitraffer. "Daydream Nation" ist eine der imposantesten musikalischen Werke der 80er Jahre, vielleicht sogar, wie eingangs erwähnt, des ganzen Jahrtausends, wer weiss. Es ist auf jeden Fall ein Werk, das selbst einer nicht eben leichtverdaulichen Band wie Sonic Youth einen Ehrenplatz im Rock Olymp gesichert hat. Musik zum niederknien.
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