JON ANDERSON - Olias Of Sunhillow (Atlantic Records K50261, 1976)
Schon als Junge musste John Anderson (er strich das 'h' später aus seinem Namen) zum Einkommen seiner Familie beitragen. Er arbeitete unter anderem als Milchmann. Sein musikalischer Werdegang begann bereits im Jahre 1954, als der Zehnjährige als Waschbrettspieler Mitglied der Little John’s Skiffle Group war, die vornehmlich Stücke von Lonnie Donegan spielte. 1962 trat er als Sänger der Band The Warriors seines Bruders Tony bei, die sich zeitweise auch The Electric Warriors nannte. Die anderen Bandmitglieder waren Michael Brereton (Leadgitarre), Rodney Hill (Rhythmusgitarre), David Foster (Bass) und der spätere King Crimson Schlagzeuger Ian Wallace. Die Band spielte vornehmlich in Nordengland und veröffentlichte zwei Singles bei Decca Records ("You Came Along" und "Don’t Make Me Blue"). Während einer Konzertreise nach Deutschland verliess Anderson die Warriors. Auf dem zweiten Yes Album "Time And A Word" fanden sich viele Jahre später zwei Songs, die Anderson zusammen mit David Foster schon in dieser Anfangsphase geschrieben hatte: "Sweet Dreams" und das Titelstück "Time And A Word". Er veröffentlichte zwei Singles unter dem Künstlernamen Hans Christian, "Never My Love", eine Coverversion des damals aktuellen Hits von The Association, und "The Autobiography Of Mississippi Hobo". Kurzzeitig war er Mitglied der Band The Gun der Brüder Paul und Adrian Gurvitz. Er hatte allerdings nur einen einzigen Auftritt, bevor er die Band verlassen musste. Die Band hatte danach, im Oktober 1968, einen grossen Hit mit der Single "Race With The Devil". Das Cover ihres ersten Albums gestaltete der Fantasy-Künstler Roger Dean, der später für zahlreiche Yes-Albumcover verantwortlich zeichnen sollte. Die Gurvitz-Brüder wurden später vor allem durch ihre Zusammenarbeit mit Ginger Baker in der Band Baker Gurvitz Army bekannt.
Im Jahre 1968 hielt sich Anderson mit einem Job im Londoner Club La Chasse über Wasser. Der Clubmanager Jack Barrie stellte ihn dem Bassisten Chris Squire vor, der zu dieser Zeit mit seiner Band Mabel Greer’s Toyshop unterwegs war. Anderson trat Squires Band bei, die sich nach einigen Umbesetzungen im Sommer 1968 nach einem Vorschlag des Gitarristen Peter Banks in Yes umbenannte. Die Urbesetzung von Yes war Anderson, Squire, Banks, Bill Bruford (Schlagzeug) und Tony Kaye (Orgel). Anderson sang mit der Band Yes bis 1978 neun Studioalben ein. Während der Arbeit an dem nie veröffentlichten zehnten Album ("Paris Sessions") in Paris verliess er zusammen mit Rick Wakeman aus künstlerischen, finanziellen und persönlichen Gründen die Band. Yes verwarfen daraufhin das mit Anderson erarbeitete Material, ersetzten Anderson und Wakeman durch Trevor Horn und Geoff Downes von den Buggles und schrieben ihr zehntes Studioalbum "Drama". Anderson widmete sich nun verstärkt seiner Zusammenarbeit mit Vangelis (Alben "Short Stories", 1980 und "The Friends of Mr. Cairo", 1981) und nahm mit den Alben "Song Of Seven" (1980) und "Animation" (1982) seine Solokarriere erneut in Angriff, nachdem er einige Jahre zuvor mit dem Werk "Olias Of Sunhillow" bereits einen ersten Solo-Versuch unternommen hatte. Nach den gescheiterten XYZ-Sessions hatte Chris Squire zusammen mit dem Yes-Schlagzeuger Alan White und dem südafrikanischen Sänger und Gitarristen Trevor Rabin das Projekt Cinema gegründet. Die Plattenfirma hielt es allerdings für notwendig, dass die neue Band einen alleinigen Frontmann bekam. Als Squire an Anderson herantrat, war dieser von dem neuen Songmaterial so begeistert, dass er spontan zusagte, auf dem neuen Album zu singen. Eine Umbenennung in Yes lag damit, schon aus Marketinggründen, nahe, da man somit keine neue Band auf dem Markt etablieren musste. Während der Arbeiten an den beiden nun folgenden Yes-Alben "90125" und "Big Generator" übernahm Trevor Rabin immer mehr die Führung der Band, die seit den 70er Jahren Jon Anderson innezuhaben gewohnt war. Frustriert verliess dieser 1988 die Band zum zweiten Mal und gründete mit drei ehemaligen Yes-Mitgliedern das Projekt Anderson, Bruford, Wakeman, Howe.
Nach nur einem Album und einer erfolgreichen Welttournee des neuen Projekts fusionierte Anderson die beiden Bands zu einem achtköpfigen Yes-Lineup, das großen kommerziellen Erfolg zu versprechen schien. Als dieser jedoch nach einem aus sehr heterogenem Material der beiden Bands zusammengestückelten Album ("Union", 1991) und einer weiteren Welttournee ausblieb, reduzierte man Yes auf Druck der Plattenfirma auf die 80er Jahre-Besetzung Anderson, Kaye, Rabin, Squire und White. Von 2004 bis 2008 legten Yes die längste Pause ihrer Bandgeschichte ein. Manche behaupten, dass diese lange Abstinenz weniger auf die gesundheitlichen Probleme Andersons (und Wakemans) zurückzuführen war, sondern ihre Gründe eher darin gehabt habe, dass Andersons spirituelle Führerin, die 'Divine Mother' Audrey Kitagawa (die ihm, wie er selbst sagte, dabei half, "in die vierte Dimension zu sehen"), dringend davon abgeraten habe, vor dem Jahr 2008 live aufzutreten. Dies war jedenfalls von Anderson als Grund für die Absage eines Auftritts an der PG School of Rock Music im Juli 2007 angegeben worden, und man hatte schon früher Gründe spiritueller Natur von ihm gehört. Mittlerweile hatte das Management aufgrund der Verärgerung mancher Fans (und der anderen Bandmitglieder, vor allem Steve Howes, Squires und Whites) allerdings von dieser Erklärung Abstand genommen und wieder die gesundheitlichen Gründe ins Spiel gebracht. Eine für den Sommer 2008 geplante Yes Comeback-Tournee wurde am 4. Juni 2008 aufgrund gesundheitlicher Probleme Andersons abgesagt. Einige Wochen zuvor war dieser mit einem akuten Asthma-Anfall ins Krankenhaus eingeliefert worden, infolge dessen er für zwei Minuten klinisch tot war. Trotz schneller Erholung rieten ihm seine Ärzte von einer Konzerttournee ab. Für Anderson kam zuerst Benoit David als Sänger, mit dem das Album "Fly From Here" aufgenommen wurde, und ab 2012 Jon Davison.
Im Sommer 1975 nahm Jon Anderson für das Album "Heaven And Hell" des griechischen Keyboarders Vangelis den Song "So Long Ago, So Clear" auf. Es war der Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit, die mit dem ersten Jon & Vangelis-Album "Short Stories" 1980 erfolgreich zu werden begann. Das Duo veröffentlichte bis 1983 drei Alben, ein viertes, letztes, kam 1991 dazu. 1982 kam der Jon & Vangelis-Titel "I’ll Find My Way Home" bis auf Platz 6 der deutschen Singles-Charts. 1975 nahmen sich alle damaligen Yes-Mitglieder eine Auszeit, um an Soloprojekten zu arbeiten. Jon Andersons erstes eigenes Album "Olias of Sunhillow" erschien dabei als letztes, und zwar erst 1976. "Olias of Sunhillow" erzählte den Hintergrund einer Geschichte, die der Yes-Illustrator Roger Dean auf den Yes-Albumcovers von "Fragile", "Close To The Edge", "Yessongs" und "Tales From Topographic Oceans" darstellte, den Zerfall eines Planeten und die Reise seiner Bruchstücke als Sporen für neue Welten und die Flucht eines Raumschiffs von der zerberstenden Welt: Drei mythische Anführer, genannt Olias, Ranyart und Qoquaq, vereinten die vier verfeindeten Stämme des dem Untergang geweihten Planeten Sunhillow, bauten durch Olias’ Gesang das lebendige Schiff "Moorglade Mover" und brachten die Bevölkerung vor der drohenden Katastrophe in die Sicherheit ihrer neuen Heimat, der Erde. Diese Geschichte wurde durch die Musik, über die Covergestaltung des Künstlers Dave Roe und eine Erzählung vermittelt, die auf einem frühen Ausgaben des Albums beiliegenden Bogen zusätzlich ins Deutsche übersetzt worden war.
Jon Anderson bediente sich dabei der Zahlensymbolik: Die vier Anfangsbuchstaben der Stammesnamen standen für die der Stämme unserer Welt, in Andersons Weltbild "Negro, Asian, Oriental and Nordic". Der Erdkreis Sunhillows stand für die 1 und die drei Anführer für die 3. Dementsprechend wurde das Symbol Olias’ auf der Rückseite des Albumcovers von einem Kreis, einem Dreieck und einem Quadrat gebildet. Der Kreis stand dabei für das Einssein aller und für Sunhillow, das Dreieck für die Anführer Olias, Ranyart und Qoquaq (es spielte auch auf die Dreieinigkeit an), das Quadrat wiederum stand für die Individualität der Stämme. Damit ähnelte des Olias-Symbol deutlich dem der Rosenkreuzer. Anderson verknüpfte diese Motive, die zumeist klassischen Mythologien entlehnt waren (Exodus, Noah und die Arche, die Dreifaltigkeit) mit zeitgenössischen esoterischen Themen. Das Album war unter anderem von 'The Initiation of Life' und 'The Finding of the third Eye', zwei Büchern der spirituellen Autorin Vera Stanley-Adler, inspiriert, die auch zentrale Elemente der Yes-Mythologie waren: eine positive Haltung der Welt und dem Leben gegenüber, Mystizismus, Prophetie, Frieden, Respekt vor der Natur, Hoffnung für die Zukunft und nicht zuletzt die Kraft der Musik (Olias formte das Schiff durch seinen Gesang).
Die Musik auf "Olias Of Sunhillow" selbst war geprägt von der visionären Kraft und dem Reichtum an musikalischer Erfahrung, die Anderson mitbrachte. Er fügte insgesamt 23 Themen zu einem geschlossenen Album ohne konventionelle Songstrukturen zusammen, das er durch die Überlagerung vieler Tonspuren zu einem dichten Gewebe melodischer und rhythmischer Figuren formte, die fliessend ineinander übergingen. Machart und Soundgestalt dieses Album waren damit einzigartig, es galt als Vorläufer und Prototyp der in den 80er Jahren aufkommenden New Age Musik. "Olias Of Sunhillow" war zusammen mit Chris Squires "Fish Out Of Water" das am stärksten stilprägende Soloalbum eines Yes Musikers. Anderson trug in dieser Zeit auch einen Beitrag zum Soloalbum "Ramshackled" des Yes Schlagzeugers Alan White bei.
Seit 1979 veröffentlichte Jon Anderson mehr oder weniger regelmässig Soloalben, die die Entwicklung des Künstlers zur eigenständigen Musikerpersönlichkeit dokumentierten. Hervorzuheben wären beispielsweise "Song Of Seven" (1979), das mit dem gleichnamigen Titelstück ein kleines Meisterwerk enthielt und auf dem mit "Some Are Born" und "Days" zudem von Yes nicht verwendetes Material zu hören war und "Change We Must" aus dem Jahre 1994, das mit klassisch inspiriertem Material, etwas moderner Klassik und orchestrierten Klassikern wie "State Of Independence" oder "Hearts" eine gelungene Veröffentlichung darstellte. Das Album "Toltec" von 1994 erinnerte als Konzeptalbum mit seinem exotischen, von vielen Percussioninstrumenten geprägten, fliessenden Sound wieder an das vielgelobte Debütalbum "Olias Of Sunhillow". Auch die anderen Alben boten eine grosse Bandbreite verschiedener Stile, von Rock ("Animation"), Pop ("In The City Of Angels", "The More You Know") über Latin Pop ("Deseo"), Unplugged ("Earthmotherearth") bis hin zu meditativer Musik ("Angel’s Embrace"), Irish Folk ("The Promise Ring") und Weihnachtsliedern im modernen Popgewand.("3 Ships"). Mit dem Einzug der neuen Medien in das Alltagsleben im 21. Jahrhundert hatte sich auch das Produktionsverhalten Jon Andersons' geändert. Seit dem letzten regulären Album "The More You Know" hatte der Künstler etliche seiner Arbeiten, meist einzelne Songs, Kollaborationen mit anderen Musikern oder Produzenten, ausschliesslich im Internet veröffentlicht, manche Songs sogar nur auf bestimmten Plattformen wie etwa bei Twitter. Seine vielfältigen Soloaktivitäten, ein deutliches Signal seiner Vitalität und Geschäftigkeit nach einer Phase der Krankheit und Genesung und seine diversen Liveaktivitäten wurden beispielsweise auf Youtube ausführlich dokumentiert.
In den 80er und 90er Jahren arbeitete Anderson an einem bis heute unveröffentlichten Musical über den Maler Marc Chagall. Von den meisten Stücken dieses Musicals existieren bislang nur Demoversionen. Lediglich zwei Songs sind bis heute veröffentlicht worden: "Picasso", ein Song über den Maler Pablo Picasso, als Bonustrack auf der remasterten Rhino Records-Version des Yes Albums "Tormato" (im Video "Yes Years" sieht man Anderson kurz, wie er das Stück singt und sich dabei auf einer Akustikgitarre selbst begleitet) und "Chagall Duet" auf Andersons Soloalbum "Change We Must". Ausserdem arbeitete Anderson neben seinen Solo-Aktivitäten im Laufe der Jahre als Gastsänger bei vielen anderen Künstlern und Projekten mit, so unter anderem bei King Crimson auf deren Album "Lizard", beim japanischen Musiekr Kitarō auf dem Album "Dream", auch bei weiterne Alben von Vangelis ("See You Later" und "Opera Sauvage", auf letzterem als Harfenist), bei Mike Oldfield (Album "Crises" und Single "Shine"), weiter auf Tangerine Dreams' Soundtrack "Legend", bei Dream Theater, Peter Machajdík, Toto, Glass Hammer und vielen weiteren. Jon Anderson ist in zweiter Ehe mit Jane Luttenberger verheiratet. Er hat drei Kinder aus erster Ehe mit Jennifer Baker: Deborah Anderson, die mit der französischen Elektropop-Band Télépopmusik unterwegs ist (Album "Angel Milk", 2005), Jade Anderson, die eine eigene Gesangskarriere verfolgt, und Damion Anderson, ebenfalls Musiker.
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