MOUNTAIN - Flowers Of Evil (Windfall Records 5501, 1971)
Das Woodstock-Festival war für eine ganze Reihe von Bands zum kommerziellen Karriere-Sprungbrett geworden. Aus der Phalanx der 32 Gruppen und Einzelinterpreten, die 1969 an dem legendären Festival ihr Stelldichein gegeben hatten, entwickelte sich auch die Formation MOUNTAIN um den Gitarristen Leslie West. Die Gruppe wurde zur festen Grösse in der damaligen Live-Szene. Ihre spektakulärsten Auftritte hatte die Gruppe jedoch in Billy Graham´s Fillmore East, sowie während ihrer anschliessenden Amerika- und Japan-Tournee. MOUNTAIN definierten sich musikalisch selbst als die amerikanische Fortsetzung der zuvor aufgelösten CREAM, zumal ihr Bassist Felix Pappalardi deren drei letzte Alben produzieren durfte. Die Virtuosität und den Individualismus der einzelnen Bandmitglieder jener sogenannten "Supergroup" konnten MOUNTAIN zwar nie erreichen, dennoch sind die in ihrer nur dreijährigen Schaffenszeit veröffentlichten Alben alles andere als billige Cream-Imitate. Dafür sorgte schon das Duo Leslie West und Felix Pappalardi, die es verstanden, in ihren Eigenkompositionen jenen exzessiven Drive einzubauen, der auch ihre grossen Vorbilder zuvor ausgezeichnet hatte. Mittels ihres überdurchschnittlichen Improvisationsvermögens wurden selbst aus rudimentären Rock'n'Roll Songs völlig andersartig klingende Titel, vor allem druckvolle und erdige Brummer.
Dass MOUNTAIN zumindest partiell auf einer Live-Band Erfolgswelle mitschwimmen konnten, ist unter anderem auch dem musikalischen Zeitgeist der auslaufenden 60er und der frühen 70er Jahre geschuldet. Er ermöglicht es, den Rockformationen auch Titel aufnehmen zu können, die sich von einer 10-minütigen Spielzeit bis hin zu fast einer halben Stunde erstreckten. Was in der heutigen normierten Musikwelt als absolute Zumutung, weil angenommenermassen unverkäuflich gilt (ausser im klassischen Progressive Rock Bereich), war in dieser Phase, in der das instrumentale Können durch Soli sowie schier endlose Improvisationen herausgestellt wurde, überhaupt kein Novum. Ganz im Gegenteil: Titel wie beispielsweise "Get Ready" von RARE EARTH, "I'm So Glad" von CREAM, "Inside Looking Out" von GRAND FUNK RAILROAD oder das jammige "I'm Goin' Home" von TEN YEARS AFTER fanden regelmässig ihren Platz auf den Playlists der damaligen Rock DJ's, sowie auf den unzähligen Kellerfeten. Auf diesen Zeitabschnitt, also die frühen 70er Jahre, fällt auch die Veröffentlichung des vierten MOUNTAIN Albums mit dem Titel "Flowers Of Evil". Es stellt eine gelungene Symbiose aus Studio- und Livestücken dar, eine Idee, die auch andere Bands damals umsetzten.
Die A-Seite der LP "Flowers Of Evil" beginnt mit dem Titelsong, einem äusserst melodiösen Stück, in welchem eine Anti-Kriegshaltung verdeutlicht wird. Die hier erzählte Geschichte handelt von einem aus dem Krieg zurück kehrenden Sohn, der seinen Eltern den Vorwurf macht, sie hätten ihn verleugnet und sich emotional von ihm abgewandt. Besonders prägnant ist die technisch zwar verstellte, doch immer noch krächzende Stimme von Leslie West, die zudem von einem breiten Klangteppich getragen wird. Mit dem nachfolgenden "King´s Chorale" folgt ein nur etwa einminütiges Keyboard-Intermezzo von Steve Knight. Ein sanftmütiges Intro für den Folgetitel "One Last Cold Kiss". Dabei handelt es sich um ein erkennbar zweideutiges Liebeslied, das sich Felix Pappalardi wohl während seines Aufenthalts auf dem Gelände seines Privat-Anwesens auf Nantucket Island zusammen mit seiner Frau Gail Collins ersonnen haben muss. Es erzählt von einem Paar, das in Gestalt zweier Schwäne an einem kalten Novembertag den Tod durch einen Bogenschützen zu erleiden hat. Die diesem Titel zugrunde liegende, sehr einprägsame Melodie wird einige Male jäh von Tempi-Wechseln unterbrochen, die den eher pathetischen Text noch zusätzlich untermauern.
Danach folgt mit "Crossroader" einer der bedeutendsten Titel der Band MOUNTAIN überhaupt. In diesem Song beschreibt die Formation einen durch sein unstetes, gehetztes Leben arg gebeutelten Protagonisten, der sich permanent auf Abwegen befindet und somit den gesellschaftlich geächeteten, den rechtsfreien Raum betritt. Auch hier wirkt der Gesang von Leslie West abrupt und wird von einem Tremolo ähnlichen Unterton getragen. Ein brummender, ja sogar knurrender Bass seines kongenilaen Partners Felix Pappalardi unterstützt ihn dabei. Dieser Songtext kann durchaus als eigene Reflexion des Musikerlebens verstanden werden. Die A-Seite der Platte endet mit dem Stück "Pride And Passion". Auch hier besinnt sich die Band abermals auf ihre Anti-Kriegshaltung, was sich vor allem textlich manifestiert. Es sind jene Argumente, die einst in dem nationalen Widerstand gegen den Vietnam-Krieg der USA zum Tragen kommen und die von MOUNTAIN in lyrischer Form repliziert werden. Eine besondere Note verleiht die Formation diesem Stück zum Schluss, indem sphärische Klänge eingearbeitet sind sowie eine rückwärts gespielte Passage aus dem Song nochmals eingestreut wird.
Die zweite Seite dieser ebenso hervorragenden, wie stets unterschätzten Platte besteht faktisch aus zwei Titeln, welche die Gruppe während eines Auftritts im legendären Fillmore East eingespielt hat. In dem Epos "Dream Sequence", das sich über erstaunliche 24 1/2 Minuten erstreckt, sind gleich mehrere Stücke als Medley eingeflochten. Das Set beginnt mit einem mehrminütigen heulenden und mit gefühlten Tonnen von Feedback beladenen Gitarrensolo von Leslie West. Darin reflektiert er ein musikalisches Zwiegespräch zwischen einem Paar, in dem er einer grimmig knurrenden Gitarre eine geigenartig tönende Replik folgen lässt. Der Gitarrist gleitet sodann nahtlos in den Chuck Berry-Klassiker "Roll Over Beethoven"über. Seine wiederum krächzende Stimme hämmert den Text stakkatoartig herunter. Bereits hier spielt sich auch der Bass von Felix Pappalardi in den Vordergrund. Nach einigen Sekunden Unterbrechung fetzt die Formation danach den Titel "Dreams Of Milk And Honey" in die noch nicht abklingenden Töne des vorgängigen Rock'n'Roll Stücks hinein. West dröhnt mit seiner Stimme den Text herunter und baut so ein dynamisches Fundament auf, in dem die sich anschliessenden, annähernd 20-minütigen Improvisationskünste der beiden Gitarristen eingebettet sind. Diesen "Variations" folgt ein Extrakt aus dem Studio-Titel "One Last Cold Kiss", das hier den Namen "Swan Theme" trägt. Den sich wechselseitig aufpuschenden Gitarrenpassagen folgt eine ständige, von Schlagzeug und Keyboard unterstützend begleitende Rückkehr zu einer Grundmelodie, die sich dann fast zu einem Ohrwurm entwickelt. Deshalb kommt das abrupte Ende dieses Medleys wohl eher überraschend: der Zuhörer hätte hierbei noch viele Minuten mitswingen können. Der zweite Titel dieser B-Seite wird durch Mountain's wohl grössten Hit "Mississippi Queen " gestellt. West klingt hier bereits heiser, dennoch haben das Stück und sein gesanglicher Vortrag den erforderlichen Drive, um es auch live überzeugend herüber zu bringen. "Mississippi Queen" wurde später zum Allzeit-Klassiker der Rockmusik.
Das Album gibt ein exzellentes Beispiel dafür ab, dass sich Studio- und Liveaufnahmen nicht ausschliessen, sondern sich sinnvoll ergänzen können, wenn ihre Zusammenstellung so gut gelungen und damit kritikfrei ist, wie es auf "Flowers Of Evil" hundertprozentig zutrifft. Das Album lebt aber auch von den musikalischen Spannungsfeldern, die sich zwischen Leslie West und Felix Pappalardi aufgebaut haben und deren dabei produzierten positiven Energien sich auf das Schöpferische jenes kongenialen Duos auswirken. Die Routine von Pappalardi lässt viele Differenzen zwischen dem Bestreben, mit einem soliden Rockfundament, das eine derartige Formation problemlos aufzubauen imstande ist und den erweiterten musikalischen Ansprüchen eines ausgebufften Profis, wie es Felix Pappalardi nun einmal war, somit im Verborgenen bleiben. "Flowers Of Evil" bleibt aber auch damit weit über den Erwartungshaltungen eines Musikfans, der sich der durchaus melodiösen, aber auch recht harten progressiven Popmusik zuwendet.
Nach ihrer Gründung 1969 in New York spielte die Gruppe noch im selben Jahr das erste Album "Leslie West's Mountain" ein. Es folget "Mountain Climbing" im Jahre 1970, das phänomenale und zu Recht als Klassiker geltende "Nantucket Sleighride" im Jahr darauf, gefolgt von der "Flowers Of Evil", dem Live-Album "Mountain Live - The Road Goes Ever On" und dem Studioalbum "Avalanche" 1973. Noch im selben Jahr kam bereits eine "Best Of Mountain" heraus, dies, weil sich die Band bereits Ende 1972 getrennt hatte. Das posthum veröffentlichte Doppelalbum "Twin Peaks" von 1974 war allerdings noch einmal ein absoluter Knaller, und ein Muss in der Sammlung, denn hier spielte die Gruppe das Titelstück ihres Erfolgsalbums "Nantucket Sleighride" in einer über halbstündigen und auf zwei LP-Seiten verteilte Fassung, die zum absolut Besten gehört, was MOUNTAIN überhaupt gespielt haben.
Leslie West und Corky Laing gründeten nach dem Aus von MOUNTAIN zusammen mit dem Ex-CREAM Bassisten Jack Bruce die Formation "West, Bruce & Laing", die bis zu ihrem Ende zwei Studioalben und ein Livealbum veröffentlichte. 1983 geriet Felix Pappalardi noch einmal auf tragische Weise in die Schlagzeilen, als er von seiner Ehefrau, der Songautorin und Coverdesignerin Gail Collins im Streit erschossen wurde. Eine Reunion der Band MOUNTAIN fand im Jahre 1985 zusammen mit dem Bassisten Mark Clark als Trio statt. Diese Formation tourte unter anderem mit DEEP PURPLE durch Europa. In der Folgezeit produzierten die reaktivierten MOUNTAIN wieder einige Platten, auf welchen auch mal Rockgrössen wie etwa Ian Hunter oder Miller Anderson zu hören gewesen waren. Auch nach einer Diabetes-bedingten Beinamputation stieg Leslie West weiterhin auf die Bühnen dieser Welt und veröffentlichte zuletzt im Jahre 2015 ein weiteres, erstaunlich frisch klingendes Album mit dem Titel "Soundcheck", auf welchem etliche Topmusiker wie Peter Frampton, Brian May, Max Middleton, Jack Bruce oder Bonnie Bramlett mitwirkten.
"Flowers Of Evil" ist aus meiner Sicht ganz klar ein Rock-Klassiker, der keiner wurde.
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