Jul 27, 2016


DREAM THEATER - Six Degrees Of Inner Turbulence
(Elektra Records 7559-62742-2, 2002)

Nach dem zuvor veröffentlichten grossartigen Album "Scenes From A Memory" war es ja fast schon zu erwarten, dass irgendwann einmal der Tag kommen wird, an dem sich die fünf Musikgenies von Dream Theater an die oftmals nicht weniger komplexe klassische Musik heranwagen. Bereits mit ihrem sechsten Album "Six Degrees Of Inner Turbulence" verwirklichen sie im Jahre 2002 das Experiment, eine komplexe Suite, nämlich das 42-minütige Titelstück dieses grandiosen Werks mit einem Orchester einzuspielen. Dass hier die ansonsten schon aufwendig instrumentierten Stücke der Band dann auch noch in Orchesterpartituren ausgearbeitet werden mussten, war vielleicht auch der Grund dafür, dass die Fans dieses Mal, nicht wie gewohnt zwei, sondern drei Jahre auf ein neues Album ihrer Lieblinge warten mussten. Aber das Warten auf diese Doppel-CD hatte sich weissgott mehr als gelohnt, denn dieses 42 Mminuten lange Epos war für mich der wahrlich beeindruckendste Song, den Dream Theater in ihrer musikalischen Karriere bis dato kreiert hatten. Auf ganz exzellente Art und Weise vereinte dieses Mammut-Stück sehr viele Progressive Rock- und Hard- und Heavy-Elemente mit moderner und zugänglicher klassischer Musik, und das Endergebnis war ganz grosses Ohrenkino.

So unterschiedlich die Alben von Dream Theater insgesamt auch sein mögen, eines haben sie stets gemeinsam: Es braucht Zeit, bis man ihre Werke wirklich versteht und alle Strukturen und Nuancen erkennt. Nachdem die Band im Jahre 2001 ein grossartiges Triple Live-Album (welches vom später veröffentlichten "Score" allerdings noch übertroffen wurde) namens "Metropolis 2000: Scenes From New York" veröffentlicht hatte, zog sich die Band zurück, um neues Material zu schreiben. Und zwar eine Menge. Diese war so gross, dass ihr nächstes Album eine Doppel-CD werden sollte. Mit dem Abstand der vielen Jahre seit der Veröffentlichung betrachtet ist "Six Degrees Of Inner Turbulence" noch immer ein Meisterwerk geblieben, das keinerlei Abnutzungserscheinungen erfahren hat in all den Jahren.

Die erste CD präsentiert fünf Songs, die noch heute völlig überzeugen können. Der lange Opener "The Glass Prison" ist vielleicht etwas zu lang geraten, doch fliesst der tolle Progressive Rock in diesem Stück wiurklich hervorragend. Das ruhig beginnende "Blind Faith" ist herrlich opulent arrangiert, begeistert vor allem durch seinenarkenzeichen von Dream Theater stilisiert: Eine Progressive Rock Band mit hartem Anspruch muss nicht zwangsläufig unmelodiös klingen. Wie hier findet sich bei der Band auf all ihren Platten auch immer diese eine wundervolle Gesangslinie, die einem nicht mehr aus dem Kopf will. Dream Theater haben es seit jeher verstanden, ihrem Sound, so unterschieldich er teilweise von Platte zu Platte auch war, dieses konsumierbare Element beizumischen, das bei all dem qualitativen Anspruch der Band oftmals auch ganz simpel gestrickte Muster zuliess, die für Jedermann schon fast Wohlklang bedeutete. Diesen Anteil an Wohlklang weitete die Gruppe sukzessive aus über die Jahre, sodass man heute fast kaum mehr von einer Progressive Metal-Band sprechen kann, wenn die Diskussion auf Dream Theater fällt. Das nachfolgende Stück "Misunderstood" klingt zu Beginn dann glatt wie eine Komposition aus der Feder von Kevin Moore, bevor nach einiger Zeit der Einfluss von Jordan Rudess deutlicher wird. Das wieder mal in zweistellige Minutenbereiche stossende "The Great Debate" ist neben der Ballade "Disappear" dann der beste Track der ersten CD, denn hier zeigen Dream Theater eindrücklich, das sie viele kleine Ideen zu einem äusserst spannenden Song stricken können.

Nach diesen fünf sehr abwechslungsreichen und absolut grossartig gespielten Titel ist man natürlich auf die zweite CD gespannt, die mit nur einem einzigen Song, nämlich dem Titel-Track aufwartet, der es auf eine Lauflänge von sagenhaften 42 Minuten plus bringt. "Six Degrees Of Inner Turbulence", die grossartige Suite, in welche Dream Theater wohl 80% ihrer Energie auf dieser Scheibe gesteckt haben, macht buchstäblich sprachlos. Die Gruppe fährt hierin all das auf, was sie zu Vorreitern eines ganzen Genres gemacht hat: Eingängige Melodien, dezenter Bombast, abartigste instrumentale Parts, tollen Gesang und hervorragende und oftmals total überraschende Stilbrüche. Die Band nimmt sich all die Zeit, die sie benötigt, und da kann es halt schon mal fast eine ganze Halbzeit eines Fussballspiels dauern, bis ein Song zuende erzählt ist. Auf jeden Fall ist dieser Longtrack der längste, aber auch einer der packendsten Titel, welche die Band bisher auf eine ihrer Platten gewuchtet hat. Übrigens: Die Liverversion von "Six Degrees Of Inner Turbulence", die man auf der 2006 erschienenen Triple Live-Platte "Score" nachhören darf, schafft es tatsächlich, noch besser zu sein als die Studioaufnahme. Dort sorgt ein Orchester für nochmals gesteigerte Dynamik und Wucht innerhalb einer Suite, die in ihrer Studiovariante schon ziemlich viel in den Schatten stellt, was in punkt progressivem Rock überhaupt jemals veröffentlicht worden ist. 

Das aus acht Teilen bestehende "Six Degrees of Inner Turbulence" enthält stilistisch derart unterschiedliche Parts, dass eine Beschreibung im Ganzen eigentlich nur fehlschlagen kann. Die Bandbeite reicht von symphonischen Passagen, über vertrackteste Progressive Metal-Frickeleien, bis zu relaxten Rock-Grooves und dem Schlussteil "Grand Finale", das an Bombast alles in den Schatten stellt, was Dream Theater jemals gemacht haben. wie gesagt: Die Live-Variante auf der "Score" kann diesen Bombast nochmal toppen, indem dort ein grossartiges Orchester zur Band stösst. Einen kleinen Kritikpunkt könnte man indes dennoch anbringen: Die Ouverture ist beeindruckend arrangiert, könnte aber doch den einen oder anderen Hörer etwas überfordern. Wer sich allerdings auf dieses Mammut-Werk einlässt, der wird nach 42 Minuten fasziniert feststellen, dass es kaum etwas Vergleichbares gibt, das über eine so lange Distanz so spannend und unterhaltsam sein kann wie "Six Degrees Of Inner Turbulence". Dream Theater schafften es mit diesem Werk, ein weiteres Album herauszubringen, das die Linie von ausnahmslos grossartigen Platten nahtlos fortsetzte.

Vielleicht geriet das Album nicht ganz so atmosphärisch wie ihre LP "Awake" und vielleicht letztlich nicht so dicht arrangiert wie "Metropolis Pt.2", aber im Vergleich zu den Werken anderer Künstler verdient es immer noch, und zwar mit Leichtigkeit, die Höchstnote. Es gibt nur ganz wenige Bands, die stetig, ohne sich jemals abzunutzen, ausnahmslos Klassiker um Klassiker produzieren. Dream Theater ist aber auf jeden Fall eine von ihnen.



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