THE KINKS - Face To Face (Reprise Records 6228, 1966)
"Face To Face" war das vierte offizielle Studioalbum der britischen Rockgruppe The Kinks und wurde in England am 28. Oktober 1966 veröffentlicht. Es war das erste Album der Band, das ausschliesslich Kompositionen von Ray Davies enthielt. Die melodischen Lieder mit ihren ambitionierten sozialkritischen Texten bedeuteten eine Abkehr vom harten Rock'n'Roll der früheren Jahre, der die Band international bekannt gemacht hatte, und festigten den Ruf von Ray Davies als einem der besten englischen Komponisten dieser Zeit. Die neue Art zu schreiben hatte sich bereits im Vorjahr angekündigt mit Titeln wie beispielsweise "Where Have All the Good Times Gone" und "A Well Respected Man". Während die ersten drei Langspielplatten der Kinks jeweils innerhalb weniger Wochen aufgenommen wurden, erstreckte sich die Produktion der neuen Veröffentlichung über mehrere Monate vom Oktober 1965 bis zum Juni 1966. Es war eine unruhige Zeit für die Band mit personellen Querelen: Der Bassist Pete Quaife wollte die Band verlassen und wurde zeitweilig durch John Dalton vertreten, der nach dem endgültigen Ausscheiden von Pete Quaife 1969 diesen ersetzte, Streitigkeiten insbesondere zwischen den Brüdern Dave und Ray Davies sowie einem Nervenzusammenbruch von letzterem. Da Ray Davies auch mit der Plattenfirma Pye Records zahlreiche Differenzen hatte, verzögerte sich die Veröffentlichung nach der Fertigstellung des Albums nochmals um mehrere Monate.
Die Kinks wurden Ende 1963 in Nord-London von den Brüdern Ray und Dave Davies gegründet, nachdem sie zuvor unter den Namen The Ravens und Robert Wace & The Boll-Weevils keinen Erfolg hatten. Im Januar 1964 erhielten sie einen Plattenvertrag bei Pye Records und wurden von Shel Talmy produziert. Am 24. Januar 1964 standen sie erstmals im Pye-Tonstudio und nahmen vier Titel auf. Diese wurden auf zwei Single-Veröffentlichungen gepresst, die stilistisch noch stark an die frühen Beatles angelehnt waren und unbeachtet blieben. Am 12. Juli 1964 entstand ihre dritte Single "You Really Got Me", mit der ihnen der internationale Durchbruch gelang. Das Stück mit dem berühmten Gitarrenriff wird gelegentlich als der Beginn des Hard Rock angesehen und entwickelte sich zum Millionenseller. Insbesondere bis 1967 hatte die Band zahlreiche weitere Hitparadenerfolge in Europa und den USA. Dabei machte sich Ray Davies unter anderem mit Kompositionen wie "Sunny Afternoon", "Dead End Street" oder "Waterloo Sunset" neben John Lennon und Paul McCartney einen Namen als einer der besten britischen Songschreiber. Ein Auftrittsverbot in den Jahren 1965 bis 1969 in den Vereinigten Staaten, verursacht durch einen Streit mit der US-amerikanischen Musikergewerkschaft, verhinderte zu dieser Zeit allerdings den entscheidenden Erfolg in den USA.
Die frühen Langspielplatten der Gruppe, "Kinks", "Kinda Kinks" und "The Kink Kontroversy" waren für die Zeit typische unzusammenhängende Kollektionen von Hit-Singles, Coverversionen und selbstgeschriebenem Füllmaterial. Neben den Hits waren aus dieser Zeit (1964/65) vor allem Stücke bekannt wie die Ballade "Stop Your Sobbing", das atmosphärisch-bedrohliche "Nothin’ In The World Can Stop Me Worryin’ ’bout that Girl", der EP-Klassiker "A Well Respected Man", das schräge "I’m On An Island" sowie die beiden B-Seiten "Where Have All The Good Times Gone" und "I’m Not Like Everybody Else". Mit dem grandiosen Werk "Face To Face" entdeckten die Kinks dann 1966 die Langspielplatte als eigenständige Kunstform. Erstmals waren in einer atmosphärisch dichten Mischung ausschliesslich Davies-Eigenkompositionen zu hören. Das Album enthielt mit dem Stück "Dandy" übrigens auch den einzigen Nr. 1-Hit der Kinks in Deutschland.
Manche Kritiker betrachten "Face To Face" als erstes Konzeptalbum des Rock'n'Roll: Nicht von Liebe und Leidenschaft handelten die Lieder, sondern von den Ängsten, Nöten und Träumen der britischen Mittelschicht. Themen, die von Ray Davies auch in den folgenden Jahren in den Mittelpunkt seiner Arbeit gestellt wurden. In den Texten voller Ironie und Spott, aber auch einfühlsam und melancholisch beschrieb Ray Davies unter anderem die Nöte von Eltern mit ihrer rebellischen Tochter in "Rosie Won't You Please Come Home", wobei sich Davies hier auf seine Schwester gleichen Namens bezog, oder die Selbstbezogenheit und Heuchelei des etablierten Bürgertums im Song "A House In The Country", das später von The Pretty Things gecovert wurde. Das Stück "Session Man" wiederum war Nicky Hopkins gewidmet, der hier das Cembalo bediente. Der Song "Too Much On My Mind" fand 1977 im Soundtrack zu Wim Wenders' Film 'Der amerikanische Freund' Verwendung.
Ursprünglich wollte Ray Davies die einzelnen Stücke durch Sound-Effekte miteinander verbinden, was jedoch am Widerstand der Plattenfirma scheiterte. Bei einzelnen Titeln wie "Party Line", "Holiday In Waikiki" oder "Rainy Day in June" liessen sich aber noch Fragmente dieser Idee erkennen. Neben den Beatles mit ihrem Stück "Yellow Submarine" (vom Album "Revolver") und den Beach Boys mit "Caroline, No" (vom Album "Pet Sounds") trugen die Kinks 1966 mit dazu bei, die Verwendung von Sound-Effekten in der Rockmusik populär zu machen. Das Album enthielt zwei Nummer 1-Hits, und zwar das bis heute immer wieder gespielte "Sunny Afternoon" in England sowie "Dandy" in Deutschland. Mit ihrer Version letzteren Titels hatte bereits die englische Band Herman’s Hermits einen Nr.-3-Hit gehabt, weshalb die Kinks-Version in England nicht als Single veröffentlicht wurde. Das Album selbst erreichte Platz 12 in den britischen und deutschen Album-Charts, aber nur Platz 136 der amerikanischen Chartliste. Hier zeichnete sich wieder einmal die Tatsache ab, dass die Band immer nur mit einzelnen Titeln grosse Erfolge feiern konnte, ihre von Kritikern regelmässig positiv beurteilten Alben aber nie den Massenmarkt erreichten.
Das psychedelische Cover, das in der auf dem Album enthaltenen Musik kaum Entsprechung fand, setzte die Plattenfirma gegen den Willen von Ray Davies durch. Das Album "Face To Face" leitete eine Reihe von hochgelobten Studio-Veröffentlichungen der Band ein, eine Phase, die erst 1971 mit dem Album "Muswell Hillbillies" enden sollte. Von vielen Fans und Kritikern wird dieser Zeitraum oftmals als das goldene Kinks-Zeitalter bezeichnet. "Face to Face" war das Kinks-Album, auf dem Ray Davies einen ersten Höhepunkt als Songwriter erreicht hatte. Die Vorgängeralben enthielten meist noch einige Coverversionen und die eigenen Songs waren teilweise noch nicht durchgängig gleichwertig. Auf "Face To Face" gelangen Ray Davies Songs, die fast allesamt Single-Qualität besassen und auch textlich durch eine enorme inhaltliche Breite überraschten. Produziert wurde dieses hervorragende Werk vom legendären Shel Talmy.
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