May 28, 2017


IRON MAIDEN - The Book Of Souls (Parlophone Records 0825646089246, 2015)

Als Fan der Gruppe Iron Maiden konnte man sich dem insgesamt sechzehnten Studioalbum der Band nur schwer bis überhaupt nicht entziehen. Die Gruppe schaffte auf “The Book Of Souls”, was ihnen auf den drei Alben zuvor nicht gelungen war: Sie vereinten ihre Vorliebe für progressive Songstrukturen mit dem Vibe der Alben aus den 80er Jahren in optimaler Form, und das machte das Werk zu einem sehr starken, vielleicht einem der stärksten der Band überhaupt. Man konnte durchaus schon kurz nach der Veröffentlichung der Platte das Gefühl bekommen, dass der Vorgänger "The Final Frontier" nicht wirklich das studiotechnische Ende von Iron Maiden sein konnte. Die progressiven Aspekte im Bandsound hatten mir auf ihrem Album "Seventh Son Of A Seventh Son" schon richtig gut gefallen, wirkten auf den neueren Veröffentlichungen aber wie Fremdkörper. Entsprechend ging ich mit keinerlei Erwartungshaltung an die Platte "The Book Of Souls" heran.

Progressiv waren die Briten eigentlich immer schon, aber hierbei hatten sie all jene Wendungen vermissen lassen, welche eine Story wirklich erinnerungswürdig werden liessen. Wie viel aufregender hingegen geriet "The Book Of Souls", und das, obwohl dieses Doppelalbum bezüglich der Spielzeit alles toppte, was bislang unter dem Namen Iron Maiden als Studiowerk erschienen war. Nicht selten sah man sich beim Anhören in die 80er Jahre zurückversetzt, als die Musiker mit ihren Alben "Somehere In Time" (1986) oder "Seventh Son Of A Seventh Son" (1988) kreativ positiv über die Stränge schlugen. Neben schlicht grandiosen Stadionhymnen, von welchen der Opener "If Eternity Should Fail", der Titelsong oder "The Red And The Black" stellvertretend genannt sein sollen, sowie den berühmten magischen Tonfolgen gab es auch kleine musikalische Überraschungen zu entdecken: Das Stück "Speed Of Light" etwa klang zu Beginn fast wie eine Guns N' Roses-Nummer von 1987, "Empire Of The Clouds" hätte aufgrund des irgendwie bombastischen Arrangements auch von Queen in den 70er Jahren konzipiert werden können. "The Book Of Souls" drehte am grossen Rad der bandeigenen Historie, wirkte trotzdem frisch und musikalisch absolut komplett. Wie viele Bands hatten bislang schon versucht, den Musikern um Steve Harris in Sachen Melodieverständnis und Twin Guitars auf Augenhöhe zu begegnen ?

Die im Vorfeld veröffentlichte erste Single "Speed Of Light" liess durchaus noch nicht auf die kommende Grosstat schliessen. Der Song war zwar gut, aber nicht wirklich ein Stück, das gleich durch die Decke schiessen konnte, dafür aber der Rest der Platte umso mehr. Das nachfolgende Lang-Werk "The Book Of Souls" beeindruckte nach nur wenigen Augenblicken. Schon das atmosphärische Intro zum Opener "If Eternity Should Fail" liess dem Hörer ein erstes Mal Gänsehaut über den Rücken laufen und stimmte standesgemäss in das Album ein. Zwar war dieser Opener eher ein gemässigter Rocker im Iron Maiden-Kosmos, dafür war aber wie aus dem Nichts der alte Spirit sofort wieder da. Dieses vertraute Gefühl, dass hier etwas Besonderes passierte, ganz so wie man es von früher kannte. Man klebte sofort an Bruce Dickinson's Lippen und wurde vom wiedergenesenen Frontmann auf eine abenteuerliche Reise mitgenommen, die nach 92 Minuten ein imposantes Ende fand. Bis dahin hatte die Band auf dem Album aber immer wieder das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, was nicht nur der mystisch-orientalische Titelsong oder eine Nummer wie "The Red And The Black" eindrucksvoll unterstrichen. Die dezent melancholische Robin Williams-Hommage "Tears Of A Clown", das verspielte "The Man Of Sorrows" oder die beiden klassischen Headbanger "When The River Runs Deep" und "Death Or Glory" überzeugten ebenfalls auf der ganzen Linie. Das lag unter anderem daran, dass die Briten die grossen Melodien wieder für sich entdeckt hatten, die Twin-Leads wieder fordernd und die Riffs wieder packend gerieten. Die Stärken der Band, und hiermit vor allem auch die progressiven Elemente, kamen wesentlich besser auf den Punkt und klangen fokussierter, was etwa einer Nummer wie "When The River Runs Deep" eine ganz eigene Dynamik verlieh.

Nach mehreren Hördurchgängen konnte man sich des Gefühls nicht erwehren, dass Bandkopf Steve Harris sich zum Wohle dieser Platte ein wenig zurück genommen und mehr auf das Können seiner Bandmitglieder vertraut hatte. Dave Murray, der als Songwriter bislang nicht gerade Akkordarbeit bei Iron Maiden verrichtet hatte, kam auf einmal mit einem kompositorischen Highlight in Form des Titels "The Man Of Sorrows" hinter dem Vorhang hervor, und auch Adrian Smith und Bruce Dickinson durften sich auf dem Album hörbar austoben. Dadurch entstand ein grosses kreatives Spannungsfeld, das in der Dickinson-Nummer "Empire Of The Clouds" auf beeindruckende Weise kulminierte. Eigentlich für ein potentielles Soloalbum gedacht, brachte dieser einmalige Song in achtzehn Minuten alle Finessen und Eigenheiten der Gruppe in nahezu perfektionistischer Art auf den Punkt. Wer hier keine Gänsehaut bekam, musste taub sein. Man hatte das Gefühl, sich in einem Film zu befinden und das Schicksal des britischen Verkehrsluftschiff R101 hautnah mitzuerleben. Durch seine vielen, fliessend ineinander übergehenden Facetten und der einzigartigen Atmosphäre geriet "Empire Of The Clouds" nicht nur zu einem extrem spannenden Song, sondern auch durchaus zu einem der besten, den Iron Maiden jemals veröffentlicht hatten.

Der Prunk an Variationen, welche die Band um ein eigentliches Grundthema baute, übertraf jede Vorstellungskraft. Das spielerisch leichte Element, das diese acht-, zehn- oder 13-minütigen opulenten Rocktitel auszeichnete, machte "The Book Of Souls" über die gesamte Spiellänge zu einer überaus spannenden und unterhaltsamen Angelegenheit, zumal auch der Sound nicht nur prachtvoll, sondern auch sehr druckvoll aus den Lautsprechern drang. Das Bruce Dickinson-Epos "Empire Of The Clouds" geriet mit seinen 18 Minuten Lauflänge zur bisher längsten Maiden-Kompositionen, die in keinem Moment die Magie verlor. In Zeiten, in denen die Aufmerksamkeitsspanne bei den meisten Menschen inzwischen bei etwa 30 Sekunden liegt, stellten Iron Maiden einen absoluten Anachronismus, ein Überbleibsel der Musikgeschichte dar.

Jeder der Bandmusiker besann sich auf dem Album auf seine Stärken: Adrian Smith präsentierte im Wechsel mit Bruce Dickinson und Steve Harris fünf potentielle Single-Kandidaten heraus, die mit untrüglichem Gespür für rockige Riffs und Hit-Melodien punkteten. Gerade bei diesen kürzeren Stücken konnte der Eindruck entstehen, man wolle sämtlichen Erfolgsnummern der Briten Tribut zollen. Textlich gaben sich Iron Maiden in der Robin Williams-Hommage "Tears Of A Clown" beeindruckend nachdenklich. Jannick Gers' Arbeiten fielen immer folkloristisch und verspielt aus, wie zum Beispiel der Titelsong "The Book Of Souls" vorführte. In "Shadow Of The Valley" verlorer sich gar "Somewhere In Time", insbesondere mit seinem an "Wasted Years" angelehnten Einstiegs-Lick. Die Ideen des grossen Schweigers Dave Murray wirkten verträumt und impressionistisch. "The Man Of Sorrows" entpuppte sich trotz seiner vergleichsweise kurzen Lauflänge von sechseinhalb Minuten zusammen mit "Empire Of The Clouds" als der abwechslungsreichste Song. Er deckte von balladesk bis kraftvoll und impulsiv bis nachdenklich ein breites Spektrum ab.

Konzeptionell widmeten sich Steve Harris und seine Mitstreiter ganz einem Alterswerk angemessen dem grossen Ganzen und beleuchteten das Leib und Seele-Problem aus vielen unterschiedlichen Perspektiven. Das ewige Suchen, Memorieren, Vergessen, Finden und Interpretieren. Der Begriff der Seele bildete den Ausgangspunkt. "Here is the soul of a man", so lauteten die ersten Worte von Bruce Dickinson in der einprägsamen Hymne "If Eternity Should Fail". Ist der Mensch eine zufällige, aus Biomasse bestehende Laune der Natur ? Ist er mit einer unsterblichen Seele ausgestattet ? Besitzt er ein Bewusstsein für Gut und Böse, wie es viele Religionen nahelegen ? Ein Thema, das etwa der Titelsong aufgriff, wenn er die Maya-Kultur beleuchtete. Diese stand zudem Pate für Eddie's Auftritt auf dem Cover als blutrünstiger Krieger. Natürlich mit der entsprechenden künstlerischen Freiheit, die sich Maiden bei der Rezeption von kulturellen Artefakten und Ikonen schon immer gerne nahmen. Die Beseelung fand auch auf der musikalischen Ebene statt. Es gab zahlreiche Querverweise zu den Klassikern der Band. Gerade die zerpflückte Art des Komponierens erweckte die elf Songs zum Leben, das Mit-, Neben- und Hintereinander diverser Parts, die in impulsiver, ungebändigter Kreativität aus den Lautsprechern sprangen.

Wie die das Leben auf unserem Planeten in ein paar Jahren aussehen mag ? Dass Klima-Erwärmung, Krieg, Terror und Armut ihre Spuren hinterlassen, sofern nicht bald die Vernunft obsiegt, steht ausser Frage. Ziemlich sicher steuern wir auf eine Welt ohne Iron Maiden zu: Erst im Mai 2015 konnte Bruce Dickinson von einem Kehlkopf-Tumor genesen und präsentierte diese beeindruckende Platte, welche die Strahlkraft der Klassiker nicht nur zitierte, sondern weiterentwickelte. Ein Referenzwerk wie den Schlusstitel "Empire Of The Clouds" hatte die Band in der gesamten Zeit ihres Bestehens nicht geschaffen.







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