Die drei Brüder Ray (Bass, Gitarre, Violine, Gesang), Derek (Gesang, Bass, Saxophon) und Phil Shulman (Gesang, Saxophon, Trompete) begannen ihre musikalische Karriere unter dem Bandnamen The Howling Wolves, aus denen danach The Road Runners wurden. Sie traten in der Gegend um Portsmouth auf und spielten wie viele andere Bands zu der Zeit auch einen britisch gefärbten Rhythm And Blues. Anfang 1966 benannten sie sich dann erneut um, diesmal in Simon Dupree And The Big Sound und spielten einen zeittypischen psychedelischen Poprock. Die weiteren Bandmitglieder waren Peter O’Flaherty (Bass), Eric Hine (Keyboards) und Tony Ransley (Schlagzeug). Die neue Gruppe konnte einen Plattenvertrag bei Parlophone Records unterzeichnen. Die ersten Singles, welche die Band dann auf diesem Label veröffentlichten, blieben weitgehend unbeachtet. Erst als sie sich auf Drängen ihres Managements noch stärker in Richtung Psychedelic Rock bewegten, konnten sie Ende 1967 mit der Single "Kites" einen Top-Hit landen, der aber leider ihr einziger bleiben sollte. Für eine kurze Zeit hatten Simon Dupree And The Big Sound einen gewissen Reginald Dwight als Keyboarder mit auf Tournee, der später als Elton John Karriere machen sollte.
Ende 1968 veröffentlichten die Shulman Brüder unter dem erneut geänderten Bandnamen The Moles die Single "We Are The Moles", ein langes Stpck, verteilt auf zwei Singles-Seiten als "Part One" und "Part Two". Bald gab es Gerüchte, hinter dem Pseudonym würden die Beatles stecken, mit Ringo Starr als Leadsänger. Doch Syd Barrett deckte auf, Simon Dupree And The Big Sound seien die Moles. Schon nach kurzer Zeit löste sich auch diese Gruppe wieder auf, um 1970 als Gentle Giant mit einem radikalen Stilwechsel wieder aufzutauchen. Gentle Giant prägten innerhalb des Progressive Rock eine eigene Richtung, gekennzeichnet durch experimentelle Klänge, komplexe Rhythmusstrukturen und avancierten Kompositionsprinzipien aus der klassischen Musik (zum Beispiel Kontrapunkt). Gentle Giant verbanden Rock, Klassik, Jazz und Pop. Die Band spielte im Studio und auf der Bühne über dreissig Instrumente und alle fünf Musiker sangen auch. Neben dem gewöhnlichen Rock-Instrumentarium Gitarre, Bass, Schlagzeug und Keyboards wurden Instrumente wie Violine, Violoncello, Blockflöte, Trompete, Saxophon, Vibraphon und Glockenspiel verwendet, zudem waren Passagen mit bis zu fünfstimmigem Chorgesang in den Kompositionen enthalten.
Als einer ihrer Meisterstreich dürfte das 1972 veröffentlichte Album "Octopus" bezeichnet werden, obwohl dieses Werk bereits viele gehörfreundlichere Elemente beinhaltete als die beiden teils als etwas sperrig wahrgenommenen Vorgänger "Gentle Giant" (1970) und "Acquiring The Taste" (1971). Trotzdem frönten die Musiker auch hier wieder völlig hemmungslos und ohne Rücksicht auf kommerzielle Verwertbarkeit einem ebenso beeindruckenden wie verwirrenden Gemisch aus Progressivem Rock, Jazz, Klassik, dissonanten Experimenten und jener knuffigen Verschrobenheit, die man damals so wohl nur in England finden konnte. Die atemberaubenden instrumentalen und stilistischen Kapriolen wurden jedoch immer wieder von wunderschönen, unkonventionellen Gesangsmelodien unterwandert, die gerne auch mal als vierstimmige Chöre auftauchten und den Hörer wieder auf einen irdischen Fixpunkt einnordeten. "The Advent Of Panurge" oder "Raconteur, Troubadour" besassen durchaus Ohrwurmqualitäten, insgesamt präsentierten sich Gentle Giant aber auch mit "Octopus" immer noch wesentlich sperriger als jede andere Progressive Rock Band der damaligen Zeit.
In durchaus relativ kurzen Songs von zumeist kaum mehr als vier Minuten Lauflänge mehr progressive Elemente hineinzustopfen, als andere Bands dies in 20 Minuten Longtracks bewerkstelligen konnten, zeichneten auch dieses Album aus. Eine wilde und anspruchsvolle Achterbahnfahrt der Instrumente, gleichwohl durchdacht und einen Sinn ergebend, liess den Zuhörer einfach nur staunen. Fast lieblich zu nennendem Mittelalterlichen Minnesang folgte ein Ausbruch von dissonantem Jazzgefrickel. Funkig angehauchtem Rock Groove folgten Passagen lieblichster Melodieseligkeit. Das alles immer wieder variierend duch die Hammond Orgel, die Geige, das Cello, eine Blockflöte, dem Xylophon, mehrstimmiger Acappella Gesangsakrobatik, dazu Trompete, sich unabhängig voneinander umgarnenden Melodien, sparsam eingesetzter elektrischer Gitarre, einem stoisch pumpenden Bass und einem sehr akzentuierten Schlagzeug-Spiel im besten Bill Bruford-Stil. Hier und da schimmerten trotz aller Komplexität die Beatles durch mit Melodien, die sich im Klangdschungel herauskristallisierten und zum mitsingen einluden.
Der Opener des Albums "The Advent Of Panurge" sei als herausragendes Beispiel für die enorme Kreativität der Musiker genannt, der so ziemlich alle eben genannten Elemente in sich vereinte. Eingeleitet von einer halsbrecherischen Gesangsakrobatik, der man kaum folgen kann, setzte bei diesem fulminanten Eintiegs-Song ein sehr dezentes, jazziges Gitarrenspiel ein, verpackt in ein veworrenes Rhythmus-Gerüst, sodass man bereits hier von einer Stilmélange sprechen konnte, die Jazzmusik mit Mittelalterlichem Minnesang verband. Auch "The Boys In The Band" war ein halsbrecherisches Stück, diesmal ein Instrumental, welches beim ersten Hören den Hörer eher abschreckte, sich bei intensiven Hördurchgängen aber immerweiter zu steigern vermochte. Hier spielten scheinbar alle aneinander vorbei und doch alle zusammen. Heute würde man das einen fabelhaften Jam ohne stilistische Schranken nennen, eine Art Strawinsky-Dissonanz, welche auf Progressiven Rock trifft.
"Think Of Me With Kindness" war ein Liebeslied, in welchem Kerry Minnear mit zartmelacholischer Stimme das Ende einer Beziehung besang. Balladenhafte Strophen wechselten sich ab mit orchestral-hymnischen sowie schmerzlich-quälenden Passagen und bewirkten so in typischer Gentle Giant-Manier ein übriges dazu, dass kein Kitsch, aber auch kein Charts-Hit entstand. Dagegen gerieten Titel wie "Knots" vertrackt bis an die Grenze der Erträglichkeit und Aufnahmefähigkeit, obwohl die Kompositionen auf "Octopus" insgesamt griffiger und kompakter wirkten als jene der vorherigen Veröffentlichungen. Musikalisch knüpfte "Octopus" aber an "Acquiring The Taste" an, der zweiten Platte der Gruppe aus dem Jahre 1971. Während das einige Monate zuvor ebenfalls im Jahre 1972 veröffentlichte Album "Three Friends" ein Konzeptalbum mit einer durchgängigen Thematik war, zeigte der achtarmige "Octopus" ein buntes Kaleidoskop von perfekten musikalischen Bravourstücken, ungemein unterhaltsam, abwechslungsreich und virtuos. Gentle Giant brillierten zwischen madrigaler Musik, Klassik, Jazz, Rock und Blues und zeigten, was sie auf unzähligen Instrumenten und in vielfältigen Kompositionstechniken konnten.Esfehlte vielleicht, jedenfalls nach meinem persönlichen Geschmack, im Vergleich zu "Three Friends" ein bisschen die Kohäsion zwischen den acht Songs, so wie es auf den beiden Folgealben, "In A Glass House" (1973) und "The Power And The Glory" (1974), wieder gelang.
Für viele Fans war und ist "Octopus" jedoch das beste Album von Gentle Giant, und ganz sicher eignet es sich hervorragend als Einstieg in das Oeuvre dieser erstklassigen und einmaligen Band. "Octopus" war das wohl gradlinigste Werk er Gruppe, die sich mit den ersten drei Platten, welche an Komplexität und Abwechslungsreichtum kaum zu überbieten waren, einen exzellenten Ruf in der Musikwelt erarbeitet hatten. Die Shulman Brüder gingen hier vielschichtig und kontrollierter zu Werke, als auf ihrem 1970 erschienen Debütalbum, dafür ungemein stringenter und klavierlastiger, als auf den vorangegangenen Veröffentlichungen. Den Hörer erwartete ein variantenreiches, aber gradliniges Songkonzept, das mit den Ideen-Overkills der ersten Platten konform ging, ohne jedoch die klare, straighte Linie aus den Augen zu verlieren. Schöne, feine Klänge fanden sich hier zuhauf, dazu rockige Melodiebögen und dezente Schlagzeug-Arrangements. Die Songs waren weniger vertrackt, aber dennoch sehr progressiv und hochwertig. "The Advent Of Panurge" war beispielsweise ein Song voller Tiefgang, leichter Komplexität und sparsamem Instrumentarium. Ein Stück, welches dem Prädikat stringent am meisten gerecht wurde und in der Gentle Giant Diskographie diesen am eloquentesten definierte. Weitere Höhepunkte dieses fast epischen Gebildes, welches sich durchaus auf eine Stufe mit dem Debütalbum stellen lässt, waren auch die Titel "A Cry For Everyone", "Dog's Life" und "River". Die Kompositionen benötigten immer viel Zeit, bis diese sich dem Hörer erschliessen konnten, doch dann offenbarte sich ein exzellentes Progressive Rock Album voller Tiefgang und akrobatischer Höhenflüge, die einer fesselnden Achterbahnfahrt gleichkamen. Trotz des direkten Konzepts strotzte "Octopus" voller Ideen: ein Album, das man richtiggehend erforschen konnte und das noch heute beim erstmaligen Anhören einfach sprachlos macht.
Obwohl Gentle Giant gegen Ende der 70er Jahre ihren Stil auf Drängen ihrer damaligen Plattenfirma Chrysalis Records vereinfachte und verstärkt Elemente des Rock aufnahm, konnte sie den von Punk und New Wave, aber auch von der Disco-Musik geprägten musikalischen Zeitgeist der Popmusik nicht mehr treffen. Trotz ihrer hohen musikalischen Kompetenz erreichten Gentle Giant niemals eine mit anderen Bands dieser Zeit vergleichbare Popularität und blieben vorrangig für ein spezialisiertes Publikum von Interesse. Dennoch prägten sie eine Reihe späterer Bands, die dem Genre des Neo Progressive Rock zugeordnet wurden. So nannte beispielsweise die kanadische Band Saga die Gruppe Gentle Giant als einen wichtigen Einfluss. Bei Kritikern und Fans genossen vor allem die Alben "Three Friends" (1972), "Octopus" (1972), "In A Glass House" (1973), "The Power And The Glory" (1974) und "Free Hand" (1975) hohes Ansehen. Im Jahre 1980 erschien mit "Civilian" das letzte Album der Band, auf dem sie sich bereits völlig vom Stil der frühen Jahre gelöst hatte. Seit 2008 traten Malcolm Mortimore und Gary Green mit einigen weiteren Musikern als Rentle Giant auf; diese Band wurde mit dem Einstieg von Kerry Minnear in Three Friends umbenannt. Minnear stieg im Oktober 2009 wieder aus.
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