GARY BURTON & KEITH JARRETT - Gary Burton & Keith Jarrett
(Atlantic Records SD 1577, 1971)
Keith Jarrett ist der älteste von fünf Söhnen einer christlich geprägten Familie. Er hatte seit dem dritten Lebensjahr Klavierunterricht und stand als Siebenjähriger zum ersten Mal auf der Bühne. Als Wunderkind spielte er weitere Konzerte, auch 1962 ein eigenes zweistündiges Klavierkonzert, ohne jemals Orchestrierungs- oder Kompositionsunterricht erhalten zu haben. Seine Mutter und er schlugen ein Angebot zur Ausbildung bei Nadia Boulanger in Paris aus. Jarrett verbrachte ein Jahr am Berklee College of Music in Boston, dem er aber, ausserordentlich begabt und spieltechnisch versiert, wenig abgewinnen konnte. Schon zuvor begann er als Barpianist seine Laufbahn als Live-Musiker. Anschliessend arbeitete er ab 1963 mit bekannten Jazzmusikern wie Chet Baker, Lee Konitz und für längere Zeit mit Art Blakey zusammen. Im Jahr 1966 engagierte ihn der Saxophonist Charles Lloyd für seine Band, mit der er mehrere Europatourneen und auch Auftritte beim Monterey Jazz Festival und im Fillmore West absolvierte. Mitte 1968 gründete er mit dem Bassisten Charlie Haden und dem Schlagzeuger Paul Motian ein eigenes Trio, das er von 1971 bis 1976 um den Saxofonisten Dewey Redman ergänzte (so genanntes amerikanisches Quartett).
Der Durchbruch jedoch gelang Jarrett als Mitglied der Jazz Rock Formationen von Miles Davis, wo er zwischen 1969 und 1971 vor allem Piano und Orgel spielte. Erst im Anschluss trat er auch als Solokünstler auf und spielte Soloplatten ein. Unter anderem veröffentlichte er im Jahre 1971 zusammen mit Gary Burton ein gleichnamiges, gemeinsames Abum für das Plattenlabel Atlantic Records ein. Die gewagte Kombination funktionierte hervorragend und brachte eines der wenigen Alben hervor, das Musik an der Schnittstelle zum Fusion Sound präsentierte, als dieser Begriff vorsichtig ausgedrückt noch in den Kinderschuhen steckte. Der stilistische völlig offene Gitarrist Gary Burton und der von allen Eckpfeilern stets getrennte Keith Jarrett erarbeiteten gemeinsam aus allerlei losen Jams ein paar ganz hervorragende Stücke, die zuletzt ein hervorragendes und aller noch jazzig zu nennenden Konventionen beraubtes Album hervorzauberten. Dabei gelang es den beiden Künstlern, mit Elementen aus schier endlos zu scheinenden Ideenfetzen verschiedenster moderner Musikstile ein ebenso homogenes, wie unprätentiöses Werk zu vollbringen, das man so auf die Art in der Tat noch nicht gehört hatte. Waren bei Keith Jarrett stets die unvorhersehbaren Solo-Schwünge Pflicht, so diente er nun im Zusammenspiel mit Gary Burton dem schier unerschöpflichen Musik-Reichtum der vergangenen 30 Jahre an, und brachte dabei so Gegensätzliches wie unterschwellig immer spürbare Rock'n'Roll-Reminiszenzen, aber auch Pop, Rock, Country gar und - natürlich - jede Menge Jazz-Avantgarde meist gleichzeitig zum strahlen.
Das gemeinsame Werk wurde unterstützt durch den hervorragenden Bass von Steve Swallow und dem Schlagzeug von Bill Goodwin. Das Studio-Quartett spielte insgesamt vier Originalsongs ein, welche die beiden Jazzmusiker gemeinsam geschrieben hatten, ausserdem präsentierten sie mit dem Stück "Como en Vietnam" eine Komposition aus der Feder von Steve Swallow. Gerade Letztere gab dem gesamten Programm eine weitere wunervolle stilistische Note, insbesondere natürlich durch Swallow's lockeren Swing in seinem Basspiel und auch dank seiner recht aussergewöhnlichen Art des Spiels am Bass. Swallow spielte insbesondere den sogenannten 'Double Bass', den er im Laufe der Jahre und seiner Erfahrung in zahlreichen Jazz-Combos präsentiert und angewendet hatte, so beispielsweise bei seinen Engagements zusammen mit Jimmy Guiffre, Paul Bley oder Art Farmer. Ab 1960 hörte er in Yale mit dem Studium auf, wo er zeitgenössische Komposition studiert hatte. Erst in den 70er Jahren wechselte er dann mehrheitlich und schliesslich vorwiegend zum elektrischen Bass. Steve Swallow war mit Carla Bley verheiratet. Swallow war einer der ersten Musiker, welche das hohe 'C' am Bass einsetzten. Auch mit dem Jazzgitarristen John Scofield hatte Steve Swallow zusammengearbeitet.
Der Schlagzeuger Bill Goodwin wiederum war ein Paradebeispiel für einen offenen Musiker, der nicht nur ein offenes Ohr hatte für allerlei Rock-Spielarten, sondern seinen einzigartigen Groove auch in den Dienst der hervorragendstgen Jazz- und Rockmusiker stellte. Seine professionelle Musikkarriere begann er während der 60er Jahre an der Seite von Charley Lloyd, Mike Melovin, Art Pepper, Paul Horn, Gabor Szabo und vielen anderen. Nachdem er von Gary Burton 1969 rekurutiert worden war und diesen drei Jahre lang begleitete, war er im Jahre 1974 einer der Mitbegünder des Phil Woods Quartet. Ihm blieb Goodwin fast 40 Jahre treu und erhielt während dieser langen Zeit insgesamt drei Grammy Awards. Sein Renommée als Schlagzeuger war immens. Neben klassischen Jazzmusikern, wie beispielsweise Bill Evans, Dexter Gordon, Jim Hall, Bobby Hutcherson, June Christy, Joe Williams, Tony Bennett, Mose Allison, sowie The Manhattan Transfer wurde er auch immre wieder von Rockmusikern gebucht. So war er unter anderem auf Tom Waits's Album "Nighthawks At The Diner" von 1975, sowie auf Jefferson Airplane's Werk "Crown Of Creation" zu hören, wo er das sogenannte 'Talking Drum' spielte.
Die vier Kompositionen "Grow Your Own", "Moonchild / In Your Quiet Place", "Fortune Smiles" und "The Raven Speaks" waren zwar offiziell von Keith Jarrett komponiert worden, jedoch in gemeinsamer Arbeit mit Gary Burton und nicht zuletzt veredelt durch die beeindruckende Rhythmusgruppe entstanden. Noch heute steht dieses Werk im Schaffen von Keith Jarrett ziemlich alleine da. So nahe an die 'Contemporary Pop & Rock Music' hat er sich später nie mehr gewandt. Deswegen ist dies eine hervorragende Alternative zu seinem übrigen und extrem vielfältigen und qualitativ überragenden Werk. Er gilt als schwieriger Mensch, der fast wie ein Choleriker agieren kann. Auf der anderen Seite ist er aber auch unbestritten eines der grössten musikalischen Genies unserer Zeit. Bis zum Jahre 1975 spielte Keith Jarrett rund 50 Solokonzerte in aller Welt. Aufnahmen wie "Solo Concerts Bremen/Lausanne" (1974) und "The Köln Concert" (1975) dokumentieren dies. Die Aufnahmen von fünf Soloauftritten in Japan vor 40000 Zuhörern wurden 1979 unter dem Titel "Sun Bear Concerts" in einer Kassette mit zehn LPs veröffentlicht.
Ungefähr zur gleichen Zeit brachte ihn sein Produzent Manfred Eicher zu Projekten wie seinem sogenannten 'Europäischen Quartett' mit dem Saxofonisten Jan Garbarek und der aus Palle Danielsson und Jon Christensen bestehenden Rhythmusgruppe ("Belonging", 1974, "My Song", 1978). Während der frühen 70er Jahre arbeitete Jarrett aber auch mit anderen Musikern wie Freddie Hubbard, Airto Moreira, Kenny Wheeler ("Gnu High", 1975) und Charlie Haden ("Closeness") zusammen. Neben den Aktivitäten im Konzertsaal begann Keith Jarrett auch, sich für klassische Musik und im Jazz unübliche Instrumente zu interessieren. Die Alben "Hymns" , "Spheres" und "Invocations - Moth And The Flame" entstanden an der Riepp-Kirchenorgel in Ottobeuren, die Aufnahme "In The Light" brachte ihn 1973 mit dem Deutschen Südfunk-Sinfonieorchester zusammen, "Book Of Ways" präsentierte ihn am Clavichord; die während der folgenden Jahre entstandenen, mehrfach preisgekrönten, bei der Kritik umstrittenen Einspielungen von Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen (1989) und seines Wohltemperierten Klaviers (1987/90) spielte er zum Teil auf dem Cembalo.
Zu Beginn der 80er Jahre, nach einer ersten grossen persönlichen Krise, belebte er mit der 1983 einsetzenden Serie von Standards-Einspielungen das Broadway- und Tin Pan Alley-Repertoire wieder und gab im Trio mit Gary Peacock am Kontrabass und Jack DeJohnette am Schlagzeug auch dem Klaviertrio-Format neue Impulse. Seitdem folgten zahlreiche, überwiegend live aufgenommene Einspielungen dieser Gruppe, wobei die Schallplattenfirma allerdings auf eine abwechselnde Veröffentlichung mit Solo-Darbietungen (aus Paris 1988, Wien 1991 und Mailand 1995) achtete. Jarrett litt seit Mitte der 90er Jahre am chronischen Erschöpfungssyndrom. Erst 1998 konnte er wieder mit dem Klavierspiel beginnen. Nach der Genesung nahm er das Soloalbum "The Melody At Night, With You" auf, das zunächst nur ein privates Weihnachtsgeschenk für seine zweite Frau Rose Anne war. In einem Interview äusserte Jarrett, jedes Solokonzert sei für ihn etwas ganz Besonderes, weil ihm diese Krankheit klargemacht habe, dass jedes Konzert sein letztes sein könnte. Das höre man auch seiner Musik an. Er gebe sich sichtlich Mühe, bei seinen neuen Konzerten vollkommen zu spielen und nicht mehr einfach drauflos wie bei seinen berühmten Aufnahmen aus den 80er Jahren. Ausserdem setzte er seine internationale Konzerttätigkeit mit seinem Trio fort. Zu seinen wichtigsten Aufnahmen der neuesten Zeit gehören "Always Let Me Go" (2001), "Up For It" (2002) und die Solo Doppel-CD "Radiance" (2005).
Die Musik von Keith Jarrett ist, wie er in einem Fernsehinterview 2005 berichtete, geprägt durch die Philosophie und Lehre Georges I. Gurdjieffs, dessen "Sacred Hymns" (ECM) er bereits 1980 veröffentlichte, sowie durch die Beschäftigung mit verschiedenen aussermusikalischen Themenbereichen. Keith Jarretts jüngerer Bruder Chris Jarrett ist ebenfalls Pianist und lebt in Deutschland. Sein Bruder Scott Jarrett ist als Singer-Songwriter und Produzent tätig. Keith Jarrett gehört zu den erfolgreichsten und stilprägenden Musikern der vergangenen vier Jahrzehnte und hat vor allem durch seine frühen Solokonzerte massgeblich die Vorstellung vieler Menschen von zeitgenössischer Improvisation beeinflusst. Dabei baute er ein leicht verständliches, transparentes Prinzip des freien Flusses motivisch geprägter Improvisationen aus und kultivierte es. Der grosse Durchbruch kam 1975 schlagartig mit der Veröffentlichung seines legendären, eigentlich unter unglücklichen Umständen stattfindenden "The Köln Concert", das von der damals achtzehnjährigen Konzertveranstalterin Vera Brandes organisiert wurde. Bei Kritikern und beim Publikum war das Köln Concert ein grosser Erfolg. Die Platte bekam den Preis der Deutschen Phono-Akademie und wurde vom Time Magazine zu einer der 'Records of the Year' gewählt. Die Verkaufszahlen liegen bei rund 3,5 Millionen verkaufter CDs und Schallplatten. Die Platte mit ihrem markanten weissen Cover war in vielen Haushalten zu sehen und zierte die Plattenschränke jener Zeit wie die Poster von Che Guevara in Studentenbuden ein Jahrzehnt zuvor. Es ist nach wie vor Jarrett's bekannteste Plattenaufnahme.
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