KEVIN COYNE - Marjory Razorblade (Virgin Records VD2501, 1973)
Er war der grosse kleine Mann von der Strasse. Ehemaliger Streetworker und Sozialarbeiter. Und ein grossartiger Songschreiber, der über all die grotesken täglichen Banalitäten, den immer wuchernden bedrohlichen Alltagsirrsinn und die Sorgen und Nöte der kleinen Leute gesungen hat. Er war mein kleiner Held mit der näselnden Stimme, dem ich zuhörte, weil er mich nervte. Er sang von seinem Weltschmerz, von psychiatrischen Kliniken, Ferien in Spanien, von Soldaten-Wehmut und dem Nuttenmilieu. Und all das verpackte er in kleine Songs, die in mir so viel auszulösen vermochten. Für mich am allerbesten machte er das auf diesem 1973 erschienenen Doppelalbum, das heute nicht zu unrecht als einer seiner besten Momente gilt. 1981 verliert sich Kevin Coyne’s Spur im wilden Dschungel diversester Klein- und Kleinstlabels, und man muss immer schön aufpassen, dass man kein Album des so beständigen wie fragilen Zeitgenossen verpasst. Denn in den Achtziger Jahren lässt sich Kevin Coyne in der Nähe von Nürnberg nieder und widmet sich vermehrt auch seiner zweiten Leidenschaft: dem Malen. Er macht weiterhin Musik und veröffentlicht viele schöne Alben auf immer wieder wechselnden Plattenlabels.
Zuvor ist er beständiger am Werk: Aus der frühen Formation Siren (zwei reguläre Platten „Siren“ und „Strange Locomotion“) geht Kevin Coyne als Solokünstler hervor und veröffentlicht das noch eher wenig beachtete Album „Case History“, welches wie die beiden Siren-Alben auf John Peel’s Dandelion Label erscheinen. John Peel ist schon damals einer der angesagtesten Radio DJ’s und der eigentliche Entdecker von Kevin Coyne. Dieser unterschreibt in der Folge beim grade eben aus der Taufe gehobenen Virgin Label von Richard Branson und „Marjory Razorblade“ ist Coyne’s phantastischer Einstand bei der neuen Firma. Er nölt sich durch allerlei spassige Alltagsgeschichten, bisweilen ziemlich schräg („Mummy“, „Good Boy“), rockt aber auch herzhaft („Eastbourne Ladies“) und baut auch immer wieder schwelgerisch schöne Songs ein wie „Marlene“ oder „Talking To No One“. Man glaubt ihm alles, was er dahernölt. Er besitzt viel Sinn für Humor, aber auch enorm viel Feingefühl und Sensorik für all die kleinen und grossen Alltäglichkeiten, die einem ständig durchs Leben begleiten. Er veröffentlicht eine ganze Reihe genialer Platten auf Virgin, unter anderem auch das schön schräge Album „Babble“ mit Dagmar Krause.
Ich hatte das grosse Glück, ihn auch live erlebt und seine ganzen Emotionen gespürt zu haben. Kevin Coyne ist tot. Er starb am 2. Dezember 2004, 60 jährig. Er hinterlässt ganz phantastische Platten, von denen ich ausser der hier vorgestellten „Marjory Razorblade“ diese hier sehr empfehlen kann:
Matching Head And Feet (1975 - Virgin CDV2033)
Babble / mit Dagmar Krause (1979 – Virgin CDV2128)
Millionaires And Teddy Bears (1979 - Virgin CDV2096)
Bursting Bubbles (1980 – Virgin CDV2152)
Sanity Stomp (1980 – Virgin CDVM3504)
Stumbling On To Paradise (1987 – Rockport 388.7010-2)
Wild Tiger Love (1991 – Rockport 388.7001.240)
Room Full Of Fools (2000 – Ruf 1052)
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